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Wer Schuld War

Titel: Wer Schuld War
Autoren: Christa Bernuth
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vorzustellen,
     obwohl er das normalerweise gern hinauszögert, aus gutem Grund, wie er weiß. Zu spät, schon erkennt er, wie sich ihre Augen
     verengen, ihre Gesichtszüge unmerklich härter werden, und bevor sich ihre Vorurteile verfestigen können, fragt er sie ihrerseits
     nach ihrem Namen.
    »Pilar Ansari«, sagt sie hastig und beiläufig, aber er bleibt dran, lässt ihr keine Zeit zum Nachdenken, wiederholt seine
     Frage: »Was suchen Sie denn hier?«
    »Paul Dahl«, sagt die Frau sofort, und er merkt im selbenMoment, wie egal er ihr ist, wie sehr sie fixiert ist auf ihr Ziel, so sehr, dass sie vielleicht sogar den Kriminalkommissar
     schon wieder vergessen hat; ihre Stimme klingt jetzt atemlos, als würde sie mit den Tränen kämpfen, aber ihr Blick ist fest
     auf sein Gesicht gerichtet: »Er wird hier drin untersucht, das weiß ich, und ich möchte ihn gern sehen.«
    »Das geht leider nicht«, sagt Klaus, »und in seinem jetzigen Zustand würden Sie das auch nicht wollen.« Das ist alles andere
     als eine Floskel; Paul Dahls Schädel wurde kreisförmig aufgesägt, und anschließend wurde die Knochenschale abgenommen, um
     sein Gehirn entnehmen und ausführlich untersuchen zu können. Das bedeutet, dass nur der Kopf unterhalb der Stirn einigermaßen
     intakt geblieben ist, und dass seine inneren Organe sich vermutlich noch nicht wieder in seinem Körper befinden, sondern in
     mehreren verschlossenen Schalen, und Klaus weiß, wie das auf Hinterbliebene wirkt, die einen unversehrten Körper erwarten
     und nicht die menschliche Entsprechung zu einem ausgenommenen Suppenhuhn.
    »Es muss aber sein«, sagt die Frau entschieden und sichtlich taub für seine Einwände.
    Klaus schüttelt den Kopf. »Warten Sie, bis er zur Beerdigung freigegeben wird. Das dauert nicht mehr lange. Die Obduktion
     ist bereits erfolgt.« Er überlegt fieberhaft, wie es jetzt weitergehen kann, er darf sie auf keinen Fall einfach so gehen
     lassen und hat dann die Idee, die Frau auf einen Kaffee einzuladen, ganz unverbindlich, in einer freundlichen, nicht amtlichen
     Atmosphäre, weil er ja ohnehin mit ihr sprechen muss. Pilar Ansari ist diejenige, die den Hausarzt verständigt hat, nachdem
     sie Paul leblos in seiner Wohnung aufgefunden hat. Also sagt er: »Ich kenne ein sehr hübsches Café«, zögernd, weil das ja
     nicht gerade die übliche Vorgehensweise ist, und das scheint die Frauzu spüren, seine Unsicherheit, denn sie knallt ihm ein freches »Na und?« an den Kopf, und das so ungeduldig und wegwerfend,
     dass er beinahe gelacht hätte, obwohl diese Reaktion ja nicht gerade für seine Autorität und Überzeugungskraft spricht, aber
     dann denkt er, Augen zu und durch und sagt: »Wir könnten uns dort unterhalten, ich muss sowieso mit Ihnen sprechen.«
    »Erst will ich   …«
    »Auf keinen Fall.« Und das kommt schon mit sehr viel mehr Nachdruck, denn nun fühlt er sich wieder auf vertrautem Terrain,
     der Umgang mit weinenden oder tobenden Hinterbliebenen, die sich nicht abfinden wollen, unmögliche Forderungen stellen, vergebliche
     Hoffnungen schüren, immer noch glauben, dass alles nur ein Irrtum sei, dass der Tote gar nicht wirklich tot sei, dass es sich
     doch um jemanden anderen handele. Solche Menschen muss man vor sich selbst schützen, vor dem Schock, der sie erwarten würde
     und der sie noch jahrelang nachts aus dem Schlaf schrecken lassen würde, das muss niemand freiwillig aushalten, außer es geht
     um eine Identifizierung des Opfers, und die ist in diesem Fall nicht notwendig. Paul Dahl ist längst identifiziert, es gibt
     nicht den geringsten Zweifel, wer er war, und so wiederholt er: »Sie können die Leiche nicht sehen, es tut mir leid«, und
     er sagt absichtlich Leiche und nicht »der Verstorbene« oder etwas ähnlich Geschöntes, weil er will, dass sie aufwacht, weil
     es den Mann namens Paul Dahl nicht mehr gibt, weil das, was in der Rechtsmedizin liegt, ein toter Körper ist und mehr nicht.
    »Sie verstehen das nicht«, sagt sie mit genau derselben Hartnäckigkeit wie vorhin, als ginge es ihr nur darum, ihren Willen
     durchzusetzen. »Ich muss mich von ihm verabschieden«, fügt sie hinzu. Was für ein Klischee, schließlich hat sie, soviel er
     weiß, den Toten gefunden, aber er willjetzt nicht mit ihr diskutieren, und genauso wenig will er sie offiziell vorladen, wozu er das Recht hat, denn schließlich
     ist sie eine Zeugin. Aber etwas hält ihn davon ab, den normalen Dienstweg einzuschlagen, irgendwie
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