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Das letzte Hemd

Das letzte Hemd

Titel: Das letzte Hemd
Autoren: Kirsten Puettjer , Volker Bleeck
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EINS
    Etwas so Schreckliches hatte der pensionierte Richter Max
Rosenmair noch nie gesehen. Es war unfassbar, wozu Menschen fähig waren,
einfach grausig – und dennoch konnte er nicht anders. Wie magisch angezogen
musste er immer wieder hinsehen, von Schock und Ekel geschüttelt.
    Erneut griff er zum Briefumschlag und betrachtete angewidert die
scheußliche Karte. Eine Hochzeitseinladung. Von seiner eigenen Tochter.
Rosenmair drehte den Brief in den Händen hin und her. Fast ein bisschen
verzweifelt blickte er auf die Adresse auf dem Briefumschlag. Keine Frage, es
war seine. Die Postleitzahl war zwar falsch, außerdem hatte Ann-Britt es
geschafft, bei der Hausnummer einen Zahlendreher einzubauen. Trotzdem war der
Brief angekommen, sogar rechtzeitig. Eigentlich erstaunlich bei diesem schwer
einschätzbaren Unternehmen namens Post, bei dem man nie vor Überraschungen
sicher war. Wenn Rosenmair auf Briefen auch nur den Vornamen des Adressaten
falsch schrieb, konnte er sich sicher sein, dass sie mit Vermerken wie »Sendung
unzustellbar« oder »Empfänger unbekannt« zurückkamen. Dafür erreichte ihn aber
jede Art von obskurer Werbepost problemlos und ohne Verzögerung, auch wenn
darauf nur »Rosenmair, Waldniel, Deutschland« stand.
    Vielleicht kann ich ja einfach behaupten, dass ich den Brief nicht
bekommen habe, dachte Rosenmair. Er wusste allerdings genau, dass seine Tochter
spätestens am Wochenende anrufen und ihn nach der Einladung fragen würde.
Irgendwie ahnte er auch, dass er aus der Nummer nicht mehr rauskommen würde.
Wenn die Tochter heiratete, musste man wohl oder übel dabei sein, wenigstens
bei der Feier. Nur dass einem das auch noch Spaß machen sollte, das konnte nun
wirklich niemand verlangen.
    Noch einmal nahm er die Karte in die Hand. Ann-Britt und ihr Philipp – nun ja. Rosenmair war ihm bislang nur ein paarmal begegnet und konnte sich
weitaus weniger für ihn begeistern als seine Tochter. Kurz gesagt: Er konnte
ihn nicht leiden. Und nun diese Karte! Die beiden hatten wirklich alle Register
der Scheußlichkeit gezogen. Kitsch as Kitsch can . Die
Einladung war auf schweres elfenbeinfarbenes Büttenpapier gedruckt, natürlich
in Goldbuchstaben. Auf der Vorderseite fehlte es an nichts, was die romantische
Verbindung zweier Menschen symbolisieren könnte, von herzförmigen
Blumenornamenten über ineinander verschränkte Eheringe bis hin zu zwei
gewaltigen Tauben, die das Protzgemälde rechts und links einrahmten. Rosenmair
hätte sich nicht gewundert, wenn die Tiere beim Aufklappen der Karte auch noch
gegurrt hätten. Technisch wäre das ja heute sicher kein Problem mehr. Die
Anordnung der Ornamente unter dem schelmisch gemeinten Satz »Wir trauen uns …«,
der in der Zeile darunter mit »… unsere Beziehung zu legalisieren«
fortgeführt wurde, wirkte so, als ob sie sich beim Aussuchen aus dem
Vorschlagsbuch nicht hatten entscheiden können und einfach kurzerhand alles
bestellt hatten. Sogar ein zwinkernder Smiley hinter dem Satz »Wir trauen uns …« fehlte nicht.
    Der Hammer aber war das Foto des Brautpaares. Etwa postkartengroß
war es in dieser 3-D-Kipptechnik gestaltet, die das letzte Mal vielleicht in
den siebziger Jahren angesagt, aber gerade wieder groß im Kommen war. Damals
hatten schwarzhaarige Flamenco-Tänzerinnen dem Betrachter zugezwinkert oder
niedliche Hündchen mit dem Schwanz gewackelt, sobald man die Karte leicht hin-
und herbewegte. Hier sah man frontal ein unfassbar spießiges Hochzeitsfoto, sie
im Rüschenbrautkleid mit Hütchen und Schleier, er kokett grinsend im silbergrau
glänzenden Smoking. Der Richter sehnte sich schon jetzt nach der Tänzerin und
dem Hündchen zurück. Bewegte man das Bild aber leicht nach oben und unten,
wurde es noch schlimmer: Man sah das sich mit spitzen Mündern küssende Brautpaar
in inniger Umarmung unter der verschnörkelten Leuchtschrift » Just Married. Ann-Britt und Philipp«.
    Geheiratet hatten die beiden tatsächlich schon, und zwar in Las
Vegas, ein Umstand, den Rosenmair nicht zuletzt deshalb begrüßte, weil er
dadurch nicht hatte dabei sein müssen. Nun wollten sie aber die kirchliche
Trauung in Deutschland nachholen, eine Aussicht, die einem wenig bis gar nicht
Gläubigen wie Max Rosenmair nicht wirklich Freude bereitete. Immerhin, die
Heirat in Las Vegas hatte ihn überrascht, da er den beiden eine so spontane
Aktion gar nicht zugetraut hätte. Wobei der Hintergrund eigentlich ein anderer
war: Da sein Schwiegersohn als
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