Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Titel: Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Autoren: Noelle Hancock
Vom Netzwerk:
Gehirn pumpen. Die gefrorenen Härchen in meiner Nase waren wie kleine Stalaktiten und Stalagmiten, die das Einatmen schmerzhaft machten. Also atmete ich stattdessen durch den Mund, wie ein Goldfisch, der nach Luft schnappt. Alle paar Minuten putzte ich mir die Nase und sah, dass neben gefrorenen Popeln auch blutige Krusten auf meinem Handtuch klebten. Die Haut unter meiner Nase war schon ganz aufgescheuert vom ständigen Schnäuzen, wie ein Hitlerbärtchen aus wunder, rosa Haut. Hinter mir hörte ich, wie sich Wanderer übergaben.
    Ab und zu fragte mich Dismas: »Alles in Ordnung, Miss Noelley?«
    »Ja! Mir geht’s prima.« Ich hatte immer noch keine Symptome der Höhenkrankheit, nicht mal Kopfschmerzen. Auch meine Beine spielten noch wacker mit. Es war zwar kalt, doch solange ich mich bewegte, wurde es nicht ungemütlich.
    »Sehr überraschend für Mädchen, die noch nie gewandert ist.« Er schüttelte verwundert den Kopf. »Meiste Leute sind jetzt sehr, sehr müde.«
    Nach weiteren vier Stunden wurde das Terrain extrem steinig. Das veränderte die Lage ganz entscheidend. Manche Steine waren größer als ich und so steil, dass ich auf allen vieren darüberklettern musste. Jetzt, wo ich auch meine Arm- und Rückenmuskeln benutzen musste, begann sich die Erschöpfung langsam in meinem Körper breitzumachen. Es kam mir vor, als bekäme ich nicht mehr genügend Luft, alle zehn Minuten musste ich stehen bleiben und rasten. Ich lag kurz vor der Kirchengruppe und war wild entschlossen, mich nicht von ihnen überholen zu lassen. Ich hatte keine Lust, in einem Menschenstau zu stecken. Zum Rasten setzte ich mich immer auf einen Felsen und sah zu, wie sich ihre Stirnlampen wie eine streitlustige Weihnachtslichterkette auf mich zu bewegten. Wenn sie zu nahe kamen, stemmte ich mich widerwillig wieder hoch und sagte zu Dismas: »Okay, ich kann jetzt wieder weiter.«
    Es ist schwierig, alles in Perspektive zu behalten, wenn man auf einem Berg ist, denn Perspektive ist genau das, was man da oben nicht hat. Ich war zu nah am Berg, um ihn einschätzen zu können. Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich vom Gipfel entfernt war. Wenn ich dachte, dass ich die letzte Steigung erklommen hatte, tat sich die nächste vor mir auf – die ich vorher nicht hatte sehen können. Ich kletterte über den nächsten »Gipfel«, nur um wieder vor einem anderen, höheren Grat zu stehen.
    »Dieser Berg produziert ständig neue Berge!«, keuchte ich Dismas bei einer unserer Pausen zu. »Wie weit ist es denn noch bis Gilman’s Point?« Ich konzentrierte mich nicht mehr auf den Boden direkt vor mir, sondern dachte nur noch an mein Endziel. Ich steckte mir einen Schokoriegel in den Mund, der in der Kälte ganz kreidig geworden war.
    »Wir haben 85 Prozent des Weges hinter uns, Miss Noelley.«
    »85 Prozent?«, rief ich, und mir fielen ein paar Schokokrümel aus dem Mund. »Mann, machen Sie Witze? Ich dachte, wir sind bei 95 Prozent!«
    Wir wanderten weiter. Ich erstickte schier. Krieg. Keine. Luft. Ich fummelte an den Druckknöpfen meiner Jacke und riss sie mit einer einzigen Bewegung auf. »Hau ab!«, schrie ich die Jacke an, als wäre sie ein Tier, das mir auf den Rücken gesprungen war. Ich riss mir einen Handschuh von der Hand und griff mir an die Kehle. Mein Puls raste so stark, dass die Schläge fast nicht zu unterscheiden waren. Dismas wartete geduldig und sagte gar nichts. Er hatte das alles schon oft genug gesehen.
    Fünfzehn Minuten später standen wir allein vor einem Schild, welches verkündete, dass wir uns an Gilman’s Point befanden. Dismas verzog sich kurz zum Pinkeln. Ich betrachtete die Lichter, die ein Zickzackmuster auf dem Berg bildeten. Jeder Punkt ein Wanderer.
    »Juuuu-huuuuuh!«, rief ich in die Dunkelheit.
    »Das kannst du laut sagen, Mädel!«, schrie jemand zurück – wahrscheinlich keiner von der Kirchengruppe.
    Ich versuchte, einen Schluck Wasser zu trinken, aber es war gefroren. Ich probierte es mit der Gatorade. Ebenfalls gefroren. Als Dismas zurückkam, machten wir uns auf, den Kraterrand entlangzugehen.
    »Dieser Teil ist sehr gefährlich, Noelley. Nur dahin treten, wo ich hintrete.«
    Wir drückten uns an Felsen vorbei, um nicht in den steilen Krater zu unserer Rechten zu stürzen. Ich wusste, dass er da war – zweieinhalb Kilometer im Durchmesser, 180 Meter tief –, aber ich konnte ihn nicht sehen, was wahrscheinlich ganz gut war. Der Himmel wurde jetzt am Horizont langsam heller, und ich wurde nervös. Ich wollte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher