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Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)

Titel: Wer nichts riskiert, verpasst das Leben: Wie ich 365 Mal meine Angst überwand (German Edition)
Autoren: Noelle Hancock
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lächelten uns an und posierten für ein Gruppenbild, aber wir umarmten uns nicht. Ich fühlte mich ihnen einfach nicht mehr so eng verbunden. Ich hatte es ohne sie geschafft.
    Vielleicht bildete ich es mir ein, aber in den letzten Tagen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass Henri mit Absicht keine Aufnahmen mehr machte, wenn ich gerade fotografierte – als wollte er nicht zugeben, dass ich ein schönes Motiv gefunden hatte. Sobald ich die Kamera hob, ließ er seine augenblicklich sinken. Als ich jetzt zu ihm blickte, ließ er seine Kamera einfach herunterhängen.
    »Willst du denn gar keine Fotos von den Gletschern machen?«, staunte ich.
    »Nein«, sagte er bockig.
    Ich zuckte mit den Schultern, drehte mich um – und schnappte nach Luft. Auf der anderen Seite des Berges – gegenüber der Seite, auf der die Sonne aufging – war die Wolkenschicht so nahtlos und erstreckte sich so unendlich weit, dass ich einen Moment brauchte, bevor mir klar wurde, dass es sich nicht um Schnee handelte. Es war ein klarer Tag, und der dunkle Schatten des Kilimandscharo zeichnete sich deutlich auf dem strahlenden Weiß ab. So viele Umstände hatten zusammenkommen müssen, damit das geschehen konnte – man musste genau zu Sonnenaufgang hier sein, es musste ein klarer Tag ohne Schneefall sein, und die Wolken mussten dick genug sein, um die weiße Leinwand für den Schatten zu bilden.
    »Das ist ja fantastisch!«, rief ich und hob die Kamera. »Das musst du fotografieren!«
    Henri schenkte der Szenerie nur einen herablassenden Blick, dann ging er davon.
    Jetzt, wo wir uns nicht mehr bewegten, war die Kälte wirklich durchdringend. Jede Sekunde, die ich meine Hand aus dem Fäustling nahm, um Bilder vom Sonnenaufgang zu machen, war die reinste Folter, aber ich wollte alles festhalten. Die Farben veränderten sich ständig, leuchtendes Gold explodierte in brennendes Kupferrot, welches wiederum schmerzlichem Lila und funkelndem Blau wich. Jedes Mal, wenn ich dachte, dass ich meine Lieblingsfarbe erwischt hatte, schmolz sie zu einer neuen, noch spektakuläreren Nuance. Es war ganz einfach das Schönste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen hatte.
    Man hatte uns vor dem »Bergkoller« gewarnt, einem Zustand, in dem die Leute aufgrund des Sauerstoffmangels delirierten. Bis jetzt zeigte noch keiner von uns Anzeichen bizarren Verhaltens, doch Dismas wollte kein Risiko eingehen.
    Nach zwanzig Minuten sagte er: »Wir gehen jetzt. Nicht gut, wenn man zu lange im Zentralbüro bleibt.«
    Der Abstieg dauerte drei Stunden. Die Strecke in umgekehrter Richtung zu gehen, war eine gute Gelegenheit, die eigene Leistung zu bewundern und zu sehen, wie weit man gekommen war. Dismas hatte recht gehabt. Wenn ich gewusst hätte, was noch vor mir lag, hätte es sein können, dass ich umgedreht wäre. Auf der Strecke mit den Felsen kletterten wir von Stein zu Stein, wobei wir hofften, dass sie nicht unter uns nachgaben und eine Lawine auslösten. Als wir zu dem Abschnitt mit der vulkanischen Asche kamen, erstreckte sie sich steil und endlos vor uns.
    Ich sah Dismas müde an. »Kann ich mich nicht einfach in einen Reifen setzen und den Berg runterrollen lassen?«
    Ohne festen Halt für die Füße war das Stück zu steil. Also mussten wir »Ski fahren«, das heißt, wir mussten uns zurücklehnen und die Knie tief beugen, während wir mit den Füßen durch die Asche schlidderten – ein ziemlich anstrengendes Unterfangen. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass meine Knie nie wieder dieselben sein werden. Als wir an der Kibo Hut ankamen, waren wir von oben bis unten mit Schwefelstaub bedeckt. Ich schlüpfte vorsichtig in meinen Schlafsack und konnte trotz geschlossener Augen lange nicht einschlafen.
    Dann waren wir auch schon auf dem Rückweg. Marie und Henri stürmten voraus, was mir eigentlich herzlich egal war.
    Stattdessen begleiteten mich Dismas und der Hilfsführer. Sie gingen hinter mir und plauderten auf Kiswahili. Wie Eltern, die gern ein Erwachsenengespräch führen wollen, gleichzeitig aber das Kleinkind im Auge behalten müssen, das vor ihnen hertapst. Mir kam der Gedanke, dass sie mich vielleicht nicht ausstehen konnten und gar nicht mit mir gehen wollten, aber ich hatte nicht mehr genug Energie, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte keine Ahnung, wie ich jetzt noch einmal zwölf Kilometer gehen sollte. Es kam mir vor wie ein Ding der Unmöglichkeit.
    »In gewisser Hinsicht ist der Abstieg der schlimmste Teil, weil man nichts mehr hat,
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