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Wer Blut vergießt

Wer Blut vergießt

Titel: Wer Blut vergießt
Autoren: Deborah Crombie
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bisschen Make-up auflegen – »in zwanzig Minuten abholen«, sagte Melody. »Allenfalls fünfundzwanzig.«
    Mit einem bedauernden Achselzucken in Duncans Richtung schwang Gemma sich aus dem Bett und tappte ins Bad. »Wohin geht’s denn?«, fragte sie Melody.
    »Nach Crystal Palace.«
    In diesem August wurde es mittags so heiß, dass man auf dem Asphalt der Crystal Palace Parade Spiegeleier hätte braten können, und im Zentrum roch die Luft nach Dieselabgasen, vermischt mit einem Hauch von Zuckerwatte.
    Morgens aß Andy in der Küche seine Cornflakes, dann las er ein wenig oder sah fern – leise, um seine Mum nicht zu wecken. Wenn sie aufstand, machte er ihr Frühstück und begleitete sie dann zum Pub. Er hatte dafür eine Reihe von Ausreden, die er abwechselnd vorbrachte, und nie gab er zu, dass er es nur deswegen tat, weil er sicherstellen wollte, dass sie auch tatsächlich dort ankam. Meist grummelte sie vor sich hin, während sie die Woodland Road zum Westow Hill hinaufgingen, und zog ein finsteres Gesicht, wenn sie in die Church Road einbogen. Aber wenn sie dann im Pub ankamen und sie sich ihre Servierschürze umband, wurden ihre Züge für einen kurzen Augenblick milder, und sie ermahnte ihn, ein braver Junge zu sein und keinen Ärger zu machen.
    Nachdem er sie sicher abgeliefert hatte, schlenderte er mit seiner Gitarre die Parade hinunter und in den Park.
    Er mochte den Crystal Palace Park, im Sommer wie im Winter, und in dieser langen Schönwetterperiode herrschte dort so etwas wie eine ausgelassene Volksfeststimmung. Zwei der alten Sphinx-Figuren, die noch von dem alten Glaspalast übrig geblieben waren, flankierten eine Treppe zwischen zwei leeren Terrassen. Hier saß er gerne im Schatten einer der großen Steinkreaturen und sah den Ausflüglern zu, während er auf seiner Gitarre spielte.
    Seine Mutter hasste das alte Höfner-Standardmodell, und sie hasste es noch mehr, wenn er darauf spielte. Sein Vater hatte die Gitarre zurückgelassen, als er sie sitzenließ, und an einem besonders schlechten Tag konnte der Anblick des Instruments sie immer noch zur Weißglut bringen.
    Er hatte kaum eine Erinnerung an seinen Vater – er war ausgezogen, als Andy vier Jahre alt gewesen war. Er hatte ein verschwommenes Bild seines Dads vor Augen, wie er auf den Stufen vor dem Haus in der Woodland Road saß und auf der Gitarre spielte, während von der Zigarette zwischen seinen Lippen der Rauch aufstieg, doch Andy war sich nicht sicher, ob das eine echte Erinnerung war oder ein Produkt seines Wunschdenkens.
    Woran er sich erinnerte, das war die Erklärung seiner Mutter, dass sein Vater »zu neuen Ufern aufgebrochen« sei. Er hatte geglaubt, das hieße, dass er gestorben und in den Himmel gekommen sei, aber als er es in der Schule erzählte, hatte eine der Nonnen ihn beiseitegenommen und erklärt, dass sein Vater gesund und munter sei und auf einer Gasbohrinsel vor Canvey Island arbeite. Es war ihm immer noch furchtbar peinlich, wenn er sich daran erinnerte, und er war sich inzwischen nicht mehr sicher, ob er überhaupt so etwas wie Erleichterung darüber empfunden hatte, dass sein Vater noch am Leben war.
    Als er älter wurde und die dahingemurmelten Bemerkungen seiner Mutter besser deuten konnte, hatte er sich nach und nach den Rest zusammengereimt. Die »neuen Ufer« bedeuteten eine andere Frau, eine Geliebte. Soweit Andy wusste, hatten sich seine Eltern nie scheiden lassen. Er nahm an, dass sein Vater noch eine Weile Geld geschickt hatte, aber das war lange vorbei.
    In der ersten Zeit hatte seine Mum einen Job als Kassiererin in einem Supermarkt gehabt, doch nach ein paar Jahren war sie plötzlich von einem Tag auf den anderen nicht mehr hingegangen. Er hatte nie herausgefunden, was passiert war. Eine Zeitlang hatten sie sich praktisch nur von Brot und Marmite ernährt, aber dann hatte seine Mutter den Job im Pub bekommen, und danach war es ihnen erst einmal besser gegangen.
    Manchmal tauchten irgendwelche »Onkel« auf, aber keiner schien sehr lange zu bleiben, und Andy war jedes Mal froh, sie wieder los zu sein.
    Von seinem Platz auf der Treppe aus beobachtete er andere Familien, und in seine Neugier mischte sich Neid. Mütter, die Eis am Stiel verteilten; Väter, die mit ihren Söhnen Fußball spielten. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie das wäre. Seine Mutter war noch nie mit ihm in den Park gegangen; allerdings erinnerte er sich vage, dass sein Vater ihn einmal mitgenommen hatte, um ihm die Dinosaurier zu
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