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Wer bin ich ohne dich

Wer bin ich ohne dich

Titel: Wer bin ich ohne dich
Autoren: Ursula Nuber
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noch mehr den eigenen Willen vor den anderen verbergen. Sie schluckten Medikamente, | 31 | stürzten sich in Arbeit, bemühten sich, ihre hochgesteckten Ziele trotz der Lähmung, die sie befallen hatte, doch noch zu erreichen. Sie boten, wie die Königin, alles, was sie hatten.
    Doch im wirklichen Leben und wie im Märchen funktioniert dieser Schachzug nicht. Gegen das Männchen beziehungsweise gegen die Depression hilft kein Aktionismus. Wie das Männchen will auch die Depression etwas »Lebendiges«.
    Sechste Parallele: Als die Königin merkt, dass das Männchen sich nicht abspeisen und nicht vertreiben lässt, ist sie verzweifelt. So verzweifelt, dass das Männchen sogar Mitleid mit ihr bekommt. Drei Tage Gnadenfrist gibt es ihr.
    Wie die Königin nehmen nun auch die depressiv erkrankten Frauen ihre unendliche Traurigkeit und ihre Verzweiflung wahr. Sie verspüren eine bleierne Müdigkeit, können sich über nichts mehr freuen. Viele depressive Frauen wissen nicht, wie sie durch den Tag kommen sollen. Wie sollen sie die Einkäufe erledigen, die Kinder betreuen, wie sollen sie es ins Büro schaffen, wie das Abendessen auf den Tisch zaubern? Bei manchen ist die Lähmung so extrem, dass sie nur noch ihre Ruhe haben wollen. Manche denken an den Tod, nicht unbedingt, weil sie sterben wollen, sondern weil sie dann endlich befreit wären von der bedrückenden Passivität und dem Zwang, sich zusammenreißen zu müssen.
    In einen ähnlich gefährlichen Zustand geriet auch Imke nach etwa drei Jahren. Als sie eines Abends völlig erschöpft von einem anstrengenden Arbeitstag zu Hause in der Küche saß, hatte sie das Gefühl, dass sie die Herrschaft über ihre Muskulatur verloren hatte. Alles an ihr war schwer, sie konnte kaum den Kopf oben halten, geschweige denn aufstehen. Als das Telefon klingelte, war es ihr unmöglich, den Arm zu bewegen, um es zu sich zu holen. Der Freund, der sie stundenlang nicht erreichte, verschaffte sich schließlich mit seinem Schlüssel Zugang zu | 32 | ihrer Wohnung. Er fand sie völlig erstarrt auf dem Stuhl sitzend, wie eine Statue, die unfähig war, auf ihn zu reagieren. Er brachte sie zum Hausarzt – und dieser wies sie in eine psychosomatische Klinik ein. Diagnose: Depression.
    Im realen Leben einer Frau ist das Rumpelstilzchen ein Repräsentant für ihren enormen Willen, ihre eigenen hohen Maßstäbe von einer »guten« Frau zu erfüllen. Das Männchen ist immer dann vorhanden, wenn eine Frau die Zähne zusammenbeißt, Ja sagt, wo sie Nein meint, wenn sie grundsätzlich zuerst an andere und an sich selbst zuletzt denkt, wenn sie ihre Ängste und ihre Schwächen um keinen Preis zeigen will, wenn sie sich über ihre körperlichen Beschwerden und die Signale ihrer Seele hinwegsetzt.
    Frauen mit einem »Männchen« in ihrem Leben versuchen immer wieder, all ihre Kräfte zu mobilisieren und verstärken ihre Bemühungen, wenn sie fürchten, schwach zu werden. Sie sind noch freundlicher, noch fleißiger, noch hilfsbereiter – nur um wieder und wieder feststellen zu müssen: Ich schaffe nicht, was ich schaffen will.
    Wie die Müllerstochter glauben viele Frauen, sie würden irgendwie davonkommen. Sie hoffen, der Preis würde doch nicht von ihnen verlangt. Aber dann will die Erschöpfung irgendwann nicht mehr weichen, auch nicht nach einem verlängerten Wochenende oder einem Urlaub. Irgendwann steht das »Männchen« vor der Tür und lässt sich nicht mehr fortschicken. Es kommt zum Zusammenbruch: Unerklärliche Weinkrämpfe, Migräneanfälle, ein Hörsturz oder eine völlige Lähmung der Willenskraft setzen die betroffene Frau dann schachmatt. Nichts geht mehr. Nichts macht ihr mehr Freude, tiefe Hoffnungslosigkeit ergreift sie. Irgendwann ist sie nicht einmal mehr zu den einfachsten Handlungen fähig. | 33 |
    Wie die Müllerstochter zunächst ihre Halskette, dann den Ring und schließlich ihr Kind opfert, so opfern Frauen oftmals über viele Etappen erst ihre Energie, dann ihren Mut und schließlich das Wertvollste, das sie haben: sich selbst.
    Es gibt Grund zur Annahme, dass viele Frauen die drohende Depression ahnen, aber nicht wahrhaben wollen. Sie führen die körperlichen Symptome und die Stimmungsschwankungen auf ihre momentane Überforderung oder auf das prämenstruelle Syndrom zurück, auf beginnende Wechseljahrsbeschwerden, auf den ausgefallenen Sommerurlaub, auf das Wetter oder auf ihre mangelnde Selbstdisziplin. Doch irgendwann können sie den Schatten, der auf ihrem Leben liegt,
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