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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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Leihschein aus und gibst ihn ab; dir wird mitgeteilt, da müsse wohl in den Katalog versehentlich eine falsche Signatur geraten sein, man könne das Buch nicht finden, man werde der Sache nachgehen. Du bestellst sofort ein anderes; man sagt dir, es sei gerade ausgeliehen, aber im Augenblick könne man leider nicht feststellen, von wem und bis wann. Das dritte, das du bestellst, ist in der Buchbinderei und wird erst in einem Monat zurück sein. Das vierte befindet sich in einem Flügel der Bibliothek, der wegen Renovierung geschlossen ist. Du füllst weiter Leihscheine aus, aber sei's aus diesem oder aus jenem Grund, keins der bestellten Bücher ist verfügbar.
    Während das Personal weitersucht, sitzt du geduldig wartend an einem Tisch zwischen anderen Lesern, glücklicheren, tief in ihre Lektüre versunkenen. Du reckst den Hals nach links und rechts, um in ihre Bücher zu linsen; wer weiß, vielleicht liest einer von ihnen gerade das Buch, das du suchst.
    Der Blick des Lesers dir gegenüber schweift, statt auf den Seiten des Buches in seinen Händen zu ruhen, im Räume umher. Aber es ist kein zerstreuter Blick, in den Bewegungen seiner blauen Augen liegt eine intensive Konzentration. Hin und wieder begegnen sich eure Blicke. Nach einer Weile spricht er dich an, genauer, er spricht wie ins Leere, meint aber zweifellos dich:
    »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie meine Augen umherschweifen sehen. Effektiv ist das meine Art zu lesen, nur so wird die Lektüre für mich ergiebig. Wenn mich ein Buch wirklich interessiert, kann ich ihm nur über wenige Zeilen folgen, und schon beginne ich abzuschweifen: Mein Geist fängt einen Gedanken auf, den ihm der Text suggeriert, oder ein Gefühl, eine Frage, ein Bild, und beginnt zu wandern, springt von Gedanke zu Gedanke, von Bild zu Bild und begibt sich auf eine Reise, die ich fortsetzen muß bis ans Ende, selbst wenn ich mich soweit vom Buch entferne, daß ich es aus den Augen verliere. Ich brauche die Anregung durch die Lektüre, und zwar durch eine gehaltvolle Lektüre, auch wenn ich von keinem Buch mehr als nur wenige Seiten zu lesen vermag. Aber schon diese wenigen Seiten enthalten für mich ganze Welten, die ich nicht auszuloten vermag.«
    »Ich verstehe Sie gut«, mischt ein anderer Leser sich ein, der sein wächsernes Gesicht und seine geröteten Augen von den Seiten seines Buches hebt. »Lesen ist eine diskontinuierliche und fragmentarische Operation. Oder besser ausgedrückt: Gegenstand der Lektüre ist eine punkt- und staubförmige Materie. Im fließenden Fortgang der Schrift unterscheidet die Aufmerksamkeit des Lesers minimale Segmente, Wortverbindungen, Metaphern, syntaktische Kombinationen, logische Abläufe, lexikalische Eigenheiten, die eine äußerst hochkonzentrierte Bedeutungsdichte aufweisen. Sie sind wie die Elementarteilchen, die den Kern eines Werkes bilden, um den alles übrige kreist. Oder wie das leere Loch auf dem Grund eines Strudels, das die Strömungen ansaugt und verschlingt. Durch diese Löcher und Ritzen oder punktförmigen Indizien offenbart sich, aufleuchtend in kaum wahrnehmbaren Blitzen, die innere Wahrheit eines Buches, seine letzte Substanz. Mythen und Mysterien bestehen aus winzigen Krumen, ungreifbar wie der Blutenstaub, der an Schmetterlingsbeinen haftet. Nur wer das begriffen hat, kann auf Offenbarungen und Erleuchtungen hoffen. Darum darf meine Aufmerksamkeit - im Gegensatz zu der Ihren, mein Herr - sich keinen Moment lang von den geschriebenen Zeilen lösen, wenn ich nicht Gefahr laufen will, irgendein aufschlußreiches Indiz zu übersehen. Jedesmal wenn ich auf ein solches Krümchen Bedeutung stoße, muß ich ringsherum weitergraben, um zu prüfen, ob sich das Goldkorn womöglich in einer Goldader fortsetzt. Und darum findet meine Lektüre auch niemals ein Ende: Ich lese und lese wieder und wieder, stets auf der Suche nach einer Bestätigung dessen, was ich in den Ritzen und Falten der Sätze an Neuem entdeckt zu haben glaube.«
    »Auch ich fühle das Bedürfnis, gelesene Bücher wiederzulesen«, sagt nun ein dritter Leser. »Aber bei jedem Wiederlesen scheint mir, ich läse zum ersten Male ein neues Buch. Bin ich es, der sich ständig verändert und immerzu Neues entdeckt, Momente, die ich zuvor übersehen hatte? Oder ist die Lektüre - die Aktivität des Lesens - wie ein Bau, der Form gewinnt durch Zusammenfügung einer Unzahl von Variablen und sich nie zweimal nach demselben Bauplan erstellen läßt? Jedesmal wenn ich die Gefühle, die
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