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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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Wolkenkratzer großer Konzerne. Die Welt ist so kompliziert, verworren und überladen; um etwas klarer zu sehen, muß man ausdünnen, ausdünnen.
    Im Gedränge auf dem Prospekt treffe ich immerzu Leute, deren Anblick mir aus verschiedenen Gründen unangenehm ist: meine Vorgesetzten, weil sie mich an meine Lage als Untergebener erinnern, meine Untergebenen, weil ich es hasse, mich mit einer Autorität ausgestattet zu fühlen, die mir erbärmlich vorkommt, so erbärmlich wie das Gemisch aus Neid, Servilität und Ressentiment, das sie hervorruft. Ich lösche die einen wie die anderen, ohne zu zögern: Aus den Augenwinkeln sehe ich sie zerschmelzen und in einer feinen Nebelschwade verdunsten.
    Bei dieser Operation muß ich achtgeben, daß ich die Passanten ausspare, die Fremden, die Unbekannten, die mir nie Ärger gemacht haben; im Gegenteil, die Gesichter mancher von ihnen scheinen mir, wenn man sie unvoreingenommen betrachtet, durchaus Interesse zu verdienen. Doch wenn die Welt um mich her nur noch aus einer Masse von Fremden besteht, kommt mir rasch ein Gefühl der Einsamkeit und Verlorenheit; besser also, ich lösche auch sie gleich mit, alle auf einen Schlag, und denke nicht mehr daran.
    In einer vereinfachten Welt habe ich bessere Chancen, den wenigen Menschen zu begegnen, denen ich gern begegne, zum Beispiel Franziska. Franziska ist eine Freundin, der zu begegnen mich immer sehr fröhlich macht. Wir tauschen die neuesten Witze aus, lachen, erzählen uns irgendwas, aber Sachen, die wir vielleicht anderen nicht erzählen würden und die sich, wenn wir sie unter uns bereden, als interessant für uns beide erweisen, und bevor wir auseinandergehen, sagen wir, daß wir uns unbedingt möglichst bald wiedersehen müssen. Dann vergehen Monate, bis wir uns zufällig wieder irgendwo auf der Straße begegnen: Freudenrufe, Gelächter, Versprechen auf baldiges Wiedersehen, aber keiner von uns unternimmt irgendwas, um eine Begegnung herbeizuführen; vielleicht weil wir wissen, daß es dann nicht mehr dasselbe wäre. Jetzt, in einer vereinfachten und reduzierten Welt, wo all die vorgegebenen Situationen ausgeräumt sind, derentwegen die Eventualität, daß ich und Franziska uns öfter sehen, eine Beziehung zwischen uns implizieren würde, die irgendwie genauer definiert werden müßte, womöglich im Hinblick auf eine Heirat oder jedenfalls, daß man uns als ein Paar betrachtet, unter Annahme einer Verbindung, die ausdehnbar wäre auf die jeweiligen Familien, die Verwandten in auf- und absteigender Linie, die Geschwister, Vettern und Basen, sowie auf die jeweiligen Freundeskreise, Berufskollegen, die ganze Umgebung unseres Zusammenlebens, unter Einschluß von Verflechtungen auf dem Gebiet der Einkommens- und Vermögensverhältnisse, jetzt, wo all diese Konditionierungen einfach entfallen, die unausgesprochen unsere Gespräche belasten und dazu führen, daß sie immer nur ein paar Minuten dauern, jetzt müßte eine Begegnung mit Franziska noch viel schöner und erfreulicher sein. Es ist also ganz natürlich, daß ich bemüht bin, die günstigsten Bedingungen für ein Zusammentreffen unserer Wege zu schaffen, unter Einschluß der Abschaffung aller jungen Frauen, die auch so einen kurzen hellen Pelzmantel tragen, wie ihn Franziska das letzte Mal trug, damit ich, wenn ich sie von weitem sehe, gleich sicher sein kann, daß sie es ist, ohne mich Mißverständnissen und Enttäuschungen auszusetzen, sowie auch der Abschaffung aller jungen Männer, die so aussehen, als könnten sie mit Franziska befreundet sein und sie gleich irgendwo treffen, womöglich mit Vorsatz, und sie genau in dem Augenblick in ein nettes Gespräch verwickeln, wenn eigentlich ich sie zufällig treffen müßte.
    Ich habe mich über Einzelheiten persönlicher Art verbreitet, aber das darf nicht dahingehend mißverstanden werden, daß ich bei meinen Löschungen etwa von rein privaten Interessen geleitet wäre, wo ich doch immer darauf bedacht bin, im Interesse des Ganzen zu handeln (und folglich auch im eigenen, aber indirekt). Wenn ich zunächst, um mal irgendwo anzufangen, alle öffentlichen Verwaltungsgebäude, die mir vor Augen gekommen sind, ausgelöscht habe, und nicht nur die Gebäude mit ihren breiten Treppenaufgängen und Säulenportalen und Korridoren und Vorzimmern, und Karteien und Akten und Zirkularen, sondern auch die Abteilungsleiter, Generaldirektoren, Vizeinspektoren und Stellvertreter, das Stammpersonal und die Hilfskräfte, so habe ich das nur getan,
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