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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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Jahrhunderten, daß alles zu existieren aufhörte? Ich habe das Zeitgefühl verloren.
    Dort hinten auf diesem Streifen Nichts, den ich weiterhin den Großen Prospekt nenne, sehe ich eine zarte Figur in einer hellen Pelzjacke: Es ist Franziska! Ich erkenne den flotten Gang in den hohen Stiefeln, die Art, wie sie die Arme im Muff verschränkt, den langen bunten flatternden Schal. Dank der eisigen Luft und der hindernisfreien Fläche habe ich eine gute Fernsicht, aber ich gestikuliere umsonst mit den Armen: Sie kann mich nicht erkennen, wir sind noch zu weit voneinander entfernt. Ich eile mit großen Schritten voran, jedenfalls glaube ich, daß ich vorankomme, aber mir fehlen die Bezugspunkte. Da zeichnen sich plötzlich auf der Linie zwischen mir und Franziska ein paar Gestalten ab: Es sind Männer, Männer mit langen Mänteln und Hüten. Sie warten auf mich. Wer können sie sein?
    Als ich nahe genug bin, erkenne ich sie: Es sind Kollegen von der Sektion D. Wie kommt es, daß sie noch da sind? Was tun sie hier? Ich dachte, ich hätte sie mit abgeschafft, als ich das Personal aller Ämter und Behörden löschte. Wieso stellen sie sich genau zwischen mich und Franziska? »Jetzt lösche ich sie«, denke ich und konzentriere mich. Aber nein, sie sind immer noch da.
    »Hallo!« begrüßen sie mich. »Bist du auch einer von uns? Bravo! Hast uns sehr ordentlich geholfen, jetzt ist alles sauber.«
    »Wie!« rufe ich überrascht. »Ihr habt auch gelöscht?«
    Jetzt wird mir klar, warum ich vorhin den Eindruck hatte, bei meinen Übungen im Verschwindenlassen der Welt diesmal vielleicht ein bißchen zu weit gegangen zu sein.
    »Aber sagt mal, wart ihr es nicht, die immer vom Wachstum gesprochen haben, vom Steigern, Vermehren, Vervielfachen
    ...?«
    »Na und? Wo ist da der Widerspruch? Paßt doch alles genau in die Logik der Wachstumsprognosen. Die Entwicklungskurve beginnt wieder bei Null. Auch dir war doch aufgegangen, daß die Situation stagnierte, an einen toten Punkt gelangt war, sich verschlechterte. Man brauchte den Prozeß nur zu beschleunigen. Tendenziell kann sich das, was kurz- und mittelfristig als ein Minus erscheinen mag, langfristig in einen Anreiz verwandeln. «
    »Aber so hab ich's nicht gemeint. .. Mein Projekt war ein anderes. Ich lösche auf andere Weise. «, protestiere ich und denke: Wenn sie meinen, sie könnten mich für ihre Ziele einspannen, haben sie sich geschnitten!
    Ich kann es kaum noch erwarten, alles wieder rückgängig zu machen, die Dinge der Welt wieder existieren zu lassen, eins nach dem anderen oder alle auf einmal, ihre bunte und greifbare Dinglichkeit wie eine kompakte Mauer den allgemeinen Vernichtungsplänen dieser Leute entgegenzustellen. Ich schließe die Augen und öffne sie langsam, sicher, mich auf dem belebten Boulevard wiederzufinden, im dichten Gedränge der Menschen und Autos nach Feierabend, wenn die Lichter angehen und die Abendzeitungen in den Kiosken ausgelegt werden. Aber nein: nichts! Die Leere um uns herum wird immer leerer, die Gestalt Franziskas am Horizont kommt so langsam voran, als müßte sie die Krümmung der Erdkugel übersteigen. Sind wir die einzigen Überlebenden? Mit wachsendem Grauen fange ich an, mir die Wahrheit bewußt zu machen: Die Welt, die ich in Gedanken zu löschen glaubte durch einen jederzeit widerrufbaren Beschluß, ist wirklich erloschen.
    »Seien wir realistisch«, sagen die Funktionäre von der Sektion D. »Man braucht sich ja bloß umzusehen. Das ganze Universum ist. sagen wir mal: in einer Transformationsphase. «, und zeigen dabei zum Himmel hinauf, wo die Sternbilder nicht mehr erkennbar sind, hier zusammengeballt, dort auseinandergelaufen, die ganze Himmelskarte zerrüttet von Sternen, die reihenweise explodieren, während andere nach einem letzten Aufflackern still verlöschen. »Wichtig ist jetzt, wo die Neuen kommen, daß sie die Sektion D voll einsatzbereit vorfinden, mit der kompletten Belegschaft und funktionierenden Strukturen. ..«
    »Und wer sind diese >Neuen    »Das zu sagen, ist es jetzt noch zu früh. Für uns, um es in unseren Begriffen zu sagen. Vorläufig können wir sie ja noch nicht einmal sehen. Daß sie da sind, ist aber sicher, und außerdem waren wir ja schon längst informiert, daß sie kommen würden. Aber auch wir sind da, und
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