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Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Titel: Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Autoren: Italo Calvino
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Sicherheit bringen und dich mit ihm, in Sicherheit ebenso vor der irkanischen Polizei wie vor der ataguitanischen.
     
    In dieser Nacht hast du einen Traum. Du sitzt in einem Zug, einem langen Zug, der durch Irkanien fährt. Alle Reisenden lesen dicke gebundene Bücher, ein Phänomen, das man in Ländern, wo die Zeitungen und Magazine nicht sehr attraktiv sind, häufiger findet als anderswo. Dir kommt der Gedanke, daß einer der Reisenden oder gar alle einen jener Romane lesen, die du hast abbrechen müssen, ja daß womöglich alle jene Romane hier im Abteil sind, übersetzt in eine dir unbekannte Sprache. Du bemühst dich zu entziffern, was auf den Buchrücken steht, obwohl du weißt, daß es zwecklos ist, weil du die Schrift nicht lesen kannst.
    Ein Reisender tritt in den Gang hinaus und läßt das Buch liegen, um seinen Platz besetzt zu halten, ein Lesezeichen zwischen den Seiten. Kaum ist er draußen, greifst du nach dem Buch, blätterst darin und überzeugst dich: Es ist das gesuchte. Im gleichen Augenblick merkst du, daß alle Reisenden dich drohend anstarren, voller Mißbilligung deines indiskreten Verhaltens.
    Um deine Verlegenheit zu verbergen, schaust du aus dem Fenster, das Buch weiter in deiner Hand. Der Zug hat angehalten, steht zwischen Gleisen und Signalmasten, vielleicht an einer Weiche irgendwo vor einem entlegenen Bahnhof. Nebel ist draußen und Schnee, man sieht nichts. Auf dem Nachbargleis steht ein Gegenzug, die Fenster sind alle beschlagen. Am Fenster dir gegenüber gibt die Kreisbewegung einer behandschuhten Hand der Scheibe langsam wieder ein wenig von ihrer Transparenz: Es erscheint eine Frauengestalt in einer Wolke von Pelz. »Ludmilla!« rufst du. »Ludmilla, das Buch«, versuchst du zu sagen, mehr mit Gesten als mit der Stimme, »das Buch, das du suchst, ich hab es gefunden, hier ist es. «, und bemühst dich, die Scheibe herunterzuziehen, um ihr das Buch hinüberzureichen durch die Eiszapfen, die den Zug dick überkrusten.
    »Das Buch, das ich suche«, erwidert die schemenhafte Gestalt, die gleichfalls ein Buch vorstreckt, ein ähnliches wie das deine, »gibt einem das Gefühl der Welt nach dem Ende der Welt, das Gefühl, die Welt sei das Ende all dessen, was auf der Welt ist, und das einzige, was auf der Welt ist, sei das Ende der Welt.«
    »Nein, so ist das nicht!« rufst du und suchst in dem unverständlichen Buch nach einem Satz, der Ludmillas Worte widerlegen kann. Aber da setzen die beiden Züge sich wieder in Bewegung und fahren in entgegengesetzte Richtungen davon.
     
    Ein eisiger Wind fegt durch die Parkanlagen der Hauptstadt Irkaniens. Du sitzt auf einer Bank und erwartest Anatoly Anatolin, der dir das Manuskript seines neuen Romans Welche Geschichte erwartet dort unten ihr Ende? übergeben soll. Ein junger Mann mit langem blondem Bart, bekleidet mit einem langen schwarzen Mantel und einer Wachstuchmütze, setzt sich neben dich. »Tun Sie, als ob nichts wäre. Die Parks werden immer sehr überwacht.«
    Eine Hecke schützt euch vor fremden Blicken. Ein kleiner Stoß Blätter wechselt aus der Innentasche von Anatolys langem Mantel in die Innentasche deines kurzen Überziehers. Anatoly Anatolin zieht weitere Blätter aus einer Innentasche der Jacke. »Ich mußte die Seiten auf meine verschiedenen Taschen verteilen, damit es nirgendwo auffällig bauscht«, sagt er und zieht zusammengerollte Seiten aus einer Innentasche der Weste. Der Wind reißt ihm ein Blatt aus der Hand, er läuft hinterher, um es aufzulesen. Grad will er noch einen Packen aus der Gesäßtasche ziehen, da springen aus der Hecke zwei Polizisten in Zivil und verhaften ihn.

Welche Geschichte erwartet dort unten ihr Ende?
    Ich flaniere über den Großen Prospekt, den Prachtboulevard unserer Stadt, und lösche in Gedanken die Elemente, die ich zu ignorieren beschlossen habe. Ich gehe an einem protzigen Ministerialgebäude vorbei, dessen Fassade ganz vollgepackt ist mit Kyriatiden, Säulen, Balustraden, Plinthen, Konsolen, Metopen, und verspüre das Bedürfnis, sie auf eine glatte senkrechte Fläche zu reduzieren, auf eine Mattglasscheibe, eine schlichtfunktionale Trennwand, die einfach den Raum abteilt, ohne sich selber eitel ins Blickfeld zu drängen. Aber auch so vereinfacht bleibt das Gebäude noch immer bedrückend. Ich beschließe es ganz abzuschaffen: An seiner Stelle erhebt sich ein milchiger Himmel über der nackten Erde. In gleicher Weise lösche ich fünf weitere Ministerien, drei Banken und ein paar
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