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Wenn du lügst

Wenn du lügst

Titel: Wenn du lügst
Autoren: Anna Salter
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Und dann der Wind. Oh mein Gott. Der Wind ist wie ein gefährliches Raubtier, vor dem man sich ununterbrochen in Acht nehmen muss. Wenn man ein Seil in diesen Wind fallen lässt, dann stellt es sich senkrecht auf.«
    »Klingt nach einem großartigen Ort, um sich zu erholen«, sagte ich.
    »Ich kann nicht weg. Ich muss schnell wieder auf die Beine kommen, damit ich Lily nach Hause bringen kann.«
    »Lily geht’s nicht schlecht da, wo sie ist. Ich denke, sie möchte sehen, wer du wirklich bist, bei dem, was du am besten kannst.«
    Sie sah mich nachdenklich an.
    Wir unterhielten uns noch eine Weile, dann schien Jena zu müde zu werden.
    »Hör zu, du siehst erledigt aus«, sagte ich und stand auf. »Ich gehe jetzt, bevor sie mich noch rauswerfen. Wir kommen nächste Woche wieder.«
    Ich ging zur Tür, dann blieb ich stehen und drehte mich noch einmal um. »Ich glaube noch immer, dass du es gut gemacht hast. Du hast es besser gemacht, als ich es gekonnt hätte. Ich komme noch nicht mal mit Werbespots klar.«

    Also das ist es, was Muttersein bedeutet, dachte ich, während ich auf Portsmouth Island den Strand entlangschlenderte. Muttersein bedeutet, eine Waffe zu nehmen, wenn nichts mehr von einem übrig ist - wenn man
so am Ende ist, dass man kaum mehr den eigenen Namen weiß -, und damit einem Mann in die Brust zu schießen, und zwar nicht, weil er einem alles genommen hat, sondern weil er nun auf deine Tochter losgeht. Und vielleicht hing Muttersein auch mit den scharfen Vogelkrallen zusammen, die sich in meine Brust gebohrt hatten, als ich in jener Nacht mit Leroy am Strand gestanden hatte. Vielleicht war es Betsys telefonischer Ausraster gegenüber der Polizei von Raleigh: »Falls der Dreckskerl nicht tot ist, schießen Sie noch mal auf ihn.« Vielleicht bekommen manche Menschen mehr als nur eine Mutter.
    Und andere bekommen vielleicht erst dann eine Mutter, wenn es zu spät ist. Mandy hatte zwölf lange Jahre nach dem Mörder eines vierjährigen Mädchens gesucht, weil sie sich für dessen Tod verantwortlich fühlte und weil das Kind niemand hatte, der auf es aufpasste, außer einer zerbrochenen Puppe - welchen Nutzen ihre Suche für Sissy auch gehabt haben mochte.
    Und manche Menschen bekommen vielleicht gar keine Mutter. Meine Mutter hatte nie diese scharfen Krallen in ihrer Brust gespürt. Diese Krallen würden niemals erlauben, dass man ein zweijähriges Kind hungrig und eine fäkaliengefüllte Windel mit sich herumschleppend allein im Haus herumwandern lässt - nicht um alle Ozeane der Farben im ganzen Universum. Es hatte letztendlich also keinen Sinn, nach Arizona zu fahren. Ich würde dort wahrscheinlich eine sehr nette Frau treffen, aber ich würde keine Mutter finden.
    Es war ein ganz neues Gefühl, mir vorzustellen, dass ein bisschen was von einer Mutter in mir steckte. Ich sah
hinüber zu Lily und Betsy, die über den Strand auf mich zukamen.
    »Das hier«, sagte Lily stolz, »ist eine Tiger-Lucine.« Sie hielt mir eine runde, glatte zweischalige Muschel entgegen.
    »Und was für ein schönes Exemplar«, erwiderte ich. Sie und Betsy verfielen mit mir in Gleichschritt, und wir gingen in kameradschaftlichem Schweigen weiter.
    »Das hier ist eine hübsche Insel«, sagte Lily dann.
    »Du darfst dich geehrt fühlen«, antwortete ich. »Ich habe bisher erst wenige Menschen mit nach Portsmouth Island genommen. Nur dich und Betsy und einen alten Freund von mir.«
    »Es ist so ruhig. Strände haben einfach etwas Großartiges an sich, und der hier ist bisher der beste. Wirst du meine Mutter irgendwann mal mit hierher nehmen?«
    »Sobald wie möglich.«
    »Breeze«, sagte sie zögerlich, »ich möchte bei Betsy wohnen und auf dem Festland zur Schule gehen.«
    »In Ordnung. Falls Betsy einverstanden ist.«
    »Klar«, sagte diese.
    »Es liegt nicht an dir«, erklärte Lily. »Aber diese Schule ist einfach zu klein. Viel zu klein. Ich habe dort keine Freunde und kann noch nicht mal die Fächer belegen, die ich fürs College brauche. Ich möchte an den Wochenenden zu dir kommen.«
    »Das ist für mich ebenfalls in Ordnung.«
    »Ist es wirklich wahr, Breeze?«, fragte sie plötzlich. »Sie werden meine Mutter nicht anklagen?«
    »Nein. Vermutlich hätten sie es ohnehin nicht getan,
aber ich muss zugeben, dass deine Aussage den Ausschlag gegeben hat.«
    Lily lächelte verlegen. »Ich fühle mich kein bisschen schlecht deswegen. Er war ein Dreckskerl. Meine Mutter sollte nicht ins Gefängnis gehen, weil sie ihn erschossen
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