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Wenn die Wahrheit nicht ruht

Wenn die Wahrheit nicht ruht

Titel: Wenn die Wahrheit nicht ruht
Autoren: Anja Berger
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mitbekommen, weil er gearbeitete hatte, musste er unten sein, bevor der Helikopter kam. Sollte er mit dem Lift hinunterfahren? Nein, auch der Lift würde angehalten, wenn der Helikopter kam. Ausserdem war der Lift zu langsam. Auf Skiern war er selbst schneller.
    Kurz sah Heinz auf die Uhr und rechnete nach, wieviel Zeit seit dem Unfall vergangen war. Der Helikopter konnte jeden Augenblick kommen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Also schlüpfte er mit geübten Bewegungen in seine Ausrüstung, schnallte die Ski an und trieb sie an, indem er die Skistöcke mit regelmässigen kräftigen Bewegungen in den Schnee stiess. Schnell hatte er die ersten Meter hinter sich gebracht. Als er sich der Unfallstelle näherte, wurde ihm unbehaglich zumute. Er zwang sich, nicht genau hinzusehen. Nur einen kleinen Blick riskierte er, um sich zu versichern, dass die Familie nicht mehr alleine war. Tatsächlich erkannte Heinz einige andere Menschen, die die Lage im Griff zu haben schienen. Also fuhr er weiter, bis er plötzlich das unverkennbare Geräusch von Rotorblättern erkannte. Jede Sekunde würde jemand den anderen Leuten auf der Piste da Zeichen geben, nicht mehr weiter zu fahren. Heinz musste schneller sein. Er ging in die Hocke und raste den Berg in halsbrecherischem Tempo hinunter. Gerade, als er die Stelle passierte, wo der Mann unter dem Felsen im Schnee lag, erkannte er im Augenwinkel, wie jemand die Hände hochriss. Der Helikopter würde also sogleich hinter der Bergkuppe auftauchen. Und so war es dann auch. Schnee stob auf und der Rumpf glitt anmutig über den Rand der Felsen. Heinz kam ein wenig ins Straucheln, aber er fing sich wieder und setzte seinen Weg unbeschadet fort, bis zu seinem Arbeitsplatz.
     
    Gleichermassen aufgewühlt wie erschöpft, kam Heinz an diesem Abend nach Hause. Anstelle eines herrlich entspannenden Kaminfeuers und wohlriechenden Essensdüften empfing ihn seine Frau wartend im dunklen, kalten Korridor. Sie sah irgendwie krank und nervös aus. Argwöhnisch trat Heinz auf sie zu, doch sie wich vor ihm zurück. „Helen?“
    Heinz wagte sich noch einen Schritt vor, aber sie hob abwehrend die Hände. „Nicht.“ Niedergeschlagen senkte sie den Blick. Sie schien unentschlossen, denn sie sagte nichts weiter, sondern rang immerzu ihre Hände.
    Erst jetzt erkannte Heinz, dass neben Helen noch etwas Eckiges stand. Es waren zwei schwarze Koffer. Verständnislos starrte er seine Frau an. „Was hast du vor?“
    „Heinz, ich…“ Ihre Stimme brach, bevor sie den Satz beenden konnte. Irgendetwas lastete schwer auf ihrer Seele und langsam kroch die nackte Angst in Heinz hoch. Helen wusste selbst, dass sie nicht darum herum kam, wenigstens ein kleines Wort der Erklärung abzugeben. Jetzt, da der Entschluss gefasst war, wurde sie ganz ruhig. „Ich wollte unsere Familie doch nur beschützen. Jetzt, da du den Auftrag nicht ausführen musstest, kann dir ganz bestimmt niemand etwas anhängen.“
    Im ersten Augenblick verstand Heinz nicht, was Helen damit sagen wollte. Doch dann wich mit einem Schlag alle Farbe aus seinem Gesicht. „Was hast du getan?“ Erst sprach er leise, fast bedrohlich, dann wurde er lauter. Seine Wut konnte er kaum noch zügeln. Er tat wieder einen Schritt, diesmal so schnell, dass sie nicht mehr ausweichen konnte. Fest packte er sie an den Schultern und begann sie zu schütteln. „Helen! Sag, dass du das nicht warst!“
    Mit stoischer Ruhe wartete Helen ab, bis er aufhörte sie zu schütteln und sie antworten liess. „Ich war da. Ich habe euch gehört. Es war ein Leichtes ohne Verdacht zu erregen an einen Skianzug wie den Deinen zu kommen. Ich zog ihn über und machte mich auf den Weg. Ich dachte, ich könnte damit leben. Ich dachte, ich könnte unsere Familie retten. Denn schlussendlich ist es doch meine Schuld, dass du dich auf diese Haie eingelassen hast. Nur, weil ich diesen vermaledeiten Hof haben wollte! Aber ich kann es nicht. Ich kann nicht damit leben.“
    Sich aus seinem Griff zu befreien war ganz einfach. Mit jedem Wort hatte er seine Finger etwas mehr gelockert. Sanft legte sie eine Hand auf seine Wange und hauchte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen. „Ich muss eine Weile nachdenken. Pass gut auf unseren Jungen auf, solange ich weg bin. Ich liebe dich.“ Dann war sie zur Tür hinaus.
    Erst, als die Tür ins Schloss fiel, löste sich Heinz aus seiner Starre. Wut, Enttäuschung und Verständnislosigkeit sammelten sich zu einem Vulkan an Gefühlen, die dringend ein Ventil
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