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Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause

Titel: Wenn der Keks redet, haben die Krümel Pause
Autoren: Malte Pieper
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tonnenschwere Schultaschen auf ihren zerbrechlichen Kinderrücken über den Bürgersteig schleppen. Wie um alles in der Welt stellt sich ein Taschenfabrikant die Tragfähigkeit eines Erstklässlers vor? Denkt er, wenn Ameisen das Hundertfache ihres Körpergewichts tragen, sollen das Grundschüler gefälligst auch tun können?
    Vielleicht ist unser Bildungssystem anderen Ländern ja deshalb unterlegen, weil man deutschen Schülern die Wirbelsäule schon von klein auf morgens mit dem Gewicht der Schultasche in Richtung Erdmittelpunkt zieht.
    Wenn bemängelt wird, die Jugend von heute hätte keine Haltung mehr und schlurfe immer nur mit hängenden Schultern durch die Stadt, sollte man da ansetzen, wo diese Fehlstellung des Skeletts beginnt: beim Schulranzen. Dann würden die Schüler auch wieder eine schönere Schrift entwickeln. Bei den meisten ist die doch nur deshalb unleserlich, weil die Blutzufuhr zu den Armen auf dem zwanzigminütigen Schulweg durch den Ranzengurt abgeklemmt wird. Stemmen Sie mal eine solche Tasche, oder machen Sie ersatzweise fünfzig Klimmzüge und versuchen Sie dann, mit ruhiger Hand einen rechten Winkel in Ihr Matheheft zu zeichnen. Sehen Sie?
    Manche sind durch dieses frühkindliche Gewichtstrauma so geprägt, dass sie später in der Oberstufe aus Angst, sich durch das Tragen von Schulsachen noch mehr zu verkrüppeln, gar kein Schulzeug mehr mitbringen. Schutzbehauptungen wie z.B. «Ich hab meine Sachen vergessen» oder: «Ich dachte, wir machen heute Ausflug», sollen nur die tatsächlichen Leiden vertuschen. Wie Marx schon sagte: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Und die Belastung des Rückens bestimmt die Vergesslichkeit des Hirns.
    «Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen»
    So sagte es schon Aristoteles. Manch ein Wirt sagt heute: «Der Schaum ist die Hälfte des Bieres.» Und einige Lehrer meinen: «Gemachte Hausaufgaben sind die Hälfte einer guten Note.» In den beiden letztgenannten Fällen will man gerne die Kneipe bzw. den Lehrer wechseln. Bei Aristoteles ist das nicht ganz so leicht. Den kann man nicht wechseln, der ist schon tot. Aber recht hatte er: Kaum ist man eingeschult worden, hat man auch schon den Schulabschluss in der Tasche. Die Gnade des Vergessens: Im Nachhinein wirkt selbst das Martyrium Schule, als sei es schnell vorübergegangen.
    Als es anfing, damals, da war die Schule ein Quell der Freude, ein Ort, wo wir uns endlich das aneignen konnten, was uns damals so erstrebenswert vorkam. Wir konnten lesen, schreiben und rechnen lernen und waren endlich richtige, große Schulkinder. Hätte man uns damals gesagt, dass wir später mal u.a. die Werke von Schiller und Goethe lesen würden, wären wir aufgesprungen und hätten gejubelt, ohne zu ahnen, dass Schillers «Glocke» mit dem erlösenden Pausengong eher wenig zu tun hat und der Erlkönig nicht als spannender Actionfilm, sondern als Gedicht zum Auswendiglernen daherkommt. Wir Nichtsahnenden hätten das ignoriert und uns ganz groß gefühlt.
    Bei der Einschulung allerdings waren wir eher klein. Um nicht zu sagen: die Kleinsten. Stolz stand ich am Einschulungstag mit einer überdimensionierten Schultüte und meinem Ranzen auf der Straße und ließ mich von meiner Mutter bereitwillig fotografieren. Selbst die gefühlten vier Tonnen Leergewicht meiner Schultasche konnten mir heute nichts anhaben, denn ich war ein großer Junge, der gleich zur Schule gehen sollte.
    Wir trafen uns mit Orhan, Fabio und Thomas, um zum ersten Mal gemeinsam unseren Schulweg zu gehen. Einen Weg, auf dem es für Kinder unseres Alters erstaunlich viel zu entdecken gibt. So viel, dass wir das ein oder andere Mal zu spät zum Unterricht kamen, weil wir z.B. noch unbedingt einer Spinne, die ihr Netz an einem Zaun platziert hatte, dabei zuschauen mussten, wie sie eine Fliege verspeiste. Das Verständnis der Lehrkraft für unser biologisches Interesse ließ allerdings spätestens beim fünften Mal Zuspätkommen deutlich nach, und sie ermahnte uns streng, pünktlich zu sein. Das ging dann auch meist gut, außer, wenn wir einen Regenwurm von der Straße retten, eine Amsel beim Nestbau beobachten, einen kleinen Hund streicheln, den Spielplatz um die Ecke auf seinen Spaßfaktor testen und einer Schnecke beim Unkrautfressen zuschauen mussten. Wir verstanden die Aufregung nicht. Ein Lehrer sollte unseren Forscherdrang doch eigentlich unterstützen!
    Aber noch war das Zukunftsmusik. Noch standen wir an der Straßenecke und warteten auf Fabio. Ja, auch damals
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