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Wenn auch nur fuer einen Tag

Wenn auch nur fuer einen Tag

Titel: Wenn auch nur fuer einen Tag
Autoren: Annette Moser
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draußen Sirenen und er springt auf.
    Ich bringe keinen Bissen herunter, als ich bei Anne und Alfred Beck am Abendbrottisch sitze. Aber es verlangt auch keiner, dass ich esse. Auch nicht, dass ich rede. Beck weiß das Nötigste, ich habe einen Bericht heruntergerasselt und seine Fragen ohne Widerworte beantwortet. Jetzt heißt es nur noch abwarten.
    Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Ich bin komplett leer, ausgebrannt. Ich empfinde noch nicht einmal Hass gegenüber meinem Bruder. Vielleicht, weil ich nicht will, dass das, was heute früh passiert ist, wahr ist. Vielleicht auch, weil ich tief in meinem Innern weiß, dass ich nicht ganz unschuldig an dem Vorfall bin und dass einige von Fabios Vorwürfen stimmen. Ich bin mein Leben lang mit dem Kopf durch die Wand gerannt, ohne Rücksicht auf Verluste. Ich habe mich darauf verlassen, dass meine Familie mich jedes Mal wieder aus der Scheiße zieht, und war es sogar gewohnt, dass Fabio mich noch verteidigte und bei unserem Vater ein gutes Wort für mich einlegte, wenn ich wieder mal Mist gebaut hatte.
    Fabio konnte nicht ahnen, dass ich mich in den vergangenen Monaten verändert habe, dass Jana einen neuen Menschen aus mir gemacht hat. Und er hatte anscheinend auch keinen blassen Schimmer davon, dass ich oft eifersüchtig auf ihn war, genauso wie er auf mich.
    Wie es aussieht, wissen wir so einiges nicht voneinander. Aber was ich weiß, ist, dass ich ihn nicht verlieren will. Weil ich ihn liebe – trotz allem. Und weil ich ihn endlich verstehen und kennenlernen will. Weil ich meinen großen Bruder brauche. Er darf nicht sterben, verdammt! Er darf mich nicht einfach so zurücklassen.
    Das Telefon klingelt und ich schrecke zusammen. Beck steht auf und nimmt ab. Sein Gesicht bleibt ernst.
    »Vielen Dank für die Auskunft. Ja, ich werde die Angehörigen benachrichtigen.«
    Ein Schwall von Übelkeit überkommt mich. »Was …?«
    »Sie sind in Ordnung. Beide. Jana hat bloß eine leichte Gehirnerschütterung und ist ziemlich geschwächt. Sie haben ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, damit sie schläft.«
    Ich atme erleichtert auf. »Und Fabio?«
    »Die Kugel hat ihn an der Schulter erwischt. Ein Streifschuss. Er wird wieder. Aber er hat Fieber und fantasiert. Er scheint noch unter Schock zu stehen.«
    Ich fahre mir erschöpft mit der Hand über die Stirn. »Grazie dio« , murmle ich. Gott sei Dank!
    Aber ich weiß, auch wenn niemand bei dieser Sache umgekommen ist, es wird lange dauern, bis auch nur ansatzweise wieder eine gewisse Ordnung im Leben der Orsini-Brüder herrscht. So viele Scherben, die es zu sortieren und zu kitten gilt. Und mit Sicherheit werden für immer ein paar Sprünge zurückbleiben. Das heute … war einfach zu krass, als dass man es jemals vergessen könnte. Man kann nur versuchen zu verstehen, wie es dazu gekommen ist. Und dafür sorgen, dass es nie wieder passiert.
    »Was wirst du jetzt tun, Lukas?«, fragt mich Anne Beck mit besorgtem Blick. »Wirst du zurückkehren nach Rom?«
    »Wenn ich das wüsste … Jana habe ich verloren. Jetzt kann ich nur darauf hoffen, dass Fabio und ich es mit der Zeit schaffen, uns wieder zusammenzuraufen. Wir haben eine Menge zu klären, schätze ich. Kann ich bald zu ihm?«
    Beck nickt. »Morgen wird er vermutlich schon ansprechbar sein. Ich nehme mal an, du willst … keine Anzeige gegen ihn erstatten?«
    Ich schüttle benommen den Kopf. »Nein. Nein, auf gar keinen Fall. Und ich will auch nicht, dass irgendjemand davon erfährt, okay? Vor allem nicht unsere Eltern.«
    Beck nickt, dann verlässt er wortlos das Zimmer. Anne Beck steht auf und räumt den Tisch ab.
    Die Stille tut mir gut. Es ist eine andere Stille als zuvor, als ich noch Angst haben musste, einem der beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben wäre vielleicht ernsthaft etwas zugestoßen. Aber gut geht es mir noch immer nicht.
    Ich lehne mich in meinem Stuhl zurück und schließe die Augen. Die Szene von heute früh spielt sich zum hundertsten Mal in meinem Kopf ab. Fabio, der friedvollste Mensch, den ich kenne, zieht eine Knarre …
    Ich weiß, dass es naiv ist, aber seit heute früh klammere ich mich an dem Gedanken fest, dass Fabio auf keinen Fall abgedrückt hätte, dass er mir nur Angst einjagen und mich in seiner Rage vor Jana bloßstellen wollte. Nur indem ich mir dies immer und immer wieder sage, schaffe ich es, nicht komplett durchzudrehen und zu verzweifeln. Mein Bruder ist kein brutaler Mörder, er kann doch keiner Fliege etwas zuleide
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