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Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe

Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe

Titel: Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Autoren: Thomas Görden
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die große, hölzerne Tribüne mit den Sitzbänken errichtet.
    Chris öffnete das Tor und schob die Schubkarre ins Gehege. Jetzt am Sonntagnachmittag drängten sich auf der Tribüne ziemlich viele Besucher, und Chris hörte, wie ein älterer Mann eine Bemerkung darüber machte, daß er sich unter einem Wolfspfleger eigentlich einen großen, vierschrötigen Burschen vorgestellt habe, nicht so eine junge, hübsche, blonde Frau. Sie mußte grinsen. Obwohl sie inzwischen an solche Bemerkungen gewöhnt war, amüsierte es sie nach wie vor. Insgeheim hielten viele Leute Wölfe noch immer für blutrünstige, unberechenbare Bestien. Natürlich durften sich da nur ganze Kerle ins Gehege wagen!
    An einem Zaunpfosten lehnte eine Mistgabel. Chris nahm sie, spießte damit die Fleischbrocken auf und schleuderte sie schwungvoll vor die Tribüne. Als die Schubkarre leer war, verließ Chris das Gehege wieder, verriegelte das Tor sorgfältig und stieg nach oben zu den Besuchern. Sie wußte, daß die Wölfe sie die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatten. Nun tauchten sie wie gewohnt zwischen den Bäumen auf: Rex, groß und aufrecht vorneweg, dann Zora, das Alphaweibchen, Hektor, ein starker Rüde, der in diesem Jahr auf die Position zwei unter den männlichen Wölfen vorgerückt war, die anderen in respektvollem Abstand, wobei Strolch, ein besonders mutiger, rauflustiger Jährling, sich weit vorwagte.
    Während die Tiere sich dem frischen Fleisch widmeten, begann Chris ihren Vortrag über Canis lupus , den Wolf. Ihre „Wolfspredigt“, wie sie es manchmal augenzwinkernd nannte, hielt sie nun seit fast sieben Monaten an jedem Arbeitstag. Dabei mußte sie oft an Silver Bears Auffassung denken, daß auf dem Medizinrad des Lebens Menschen, Wölfe und alle anderen Geschöpfe einen gleichberechtigten Platz einnahmen. Aber von dieser indianischen Denkweise waren die meisten Besucher, die hier in der Eifel die Wolfsfütterung verfolgten, vermutlich ziemlich weit entfernt.
    Chris erzählte von der Aufzucht der Welpen und von der Rangordnung im Rudel. Sie erzählte vom Reich der Wölfe, das sie selbst durchwandert hatte, von endlosen Wäldern, einsamen Taigas und Tundren des Nordens, von ihrer Schönheit, aber auch davon, wie sehr selbst diese einst unberührten Landschaften heute durch den selbstmörderischen Krieg bedroht waren, den der Mensch gegen die Natur führte.
    Als Chris gerade eine Bemerkung über den vorwitzigen Strolch machte, der Hektor einen Brocken Fleisch weggeschnappt hatte und dafür böse angeknurrt worden war, hoben die Wölfe plötzlich die Köpfe und schauten nach Süden, dorthin, wo der rothaarige Mann zwischen den Bäumen stand. Normalerweise ließen sich die Tiere nicht beim Fressen stören und kümmerten sich kaum um das, was außerhalb des Geheges geschah, weil sie wußten, daß ihnen von dort keine Gefahr drohte. Doch jetzt reagierten sie auf irgend etwas. Ein fernes Geräusch, eine ungewohnte Witterung?
    „Dann ist das Märchen vom bösen Wolf also Quatsch?“ fragte ein Kind. Chris wollte zu einer Antwort ansetzen, vergaß jedoch weiterzusprechen.
    Sie sah, wie der Mann sich aus dem Schatten der Bäume löste und sich dem Zaun näherte. Seine Schritte wirkten unsicher, als habe er getrunken. Er war groß wie ein Bär, mit schütteren rotblonden Haaren. Seine großen Hände umfaßten den Zaundraht, und er beugte sich vor, schien förmlich in das Gehege hineinkriechen zu wollen. Seine Augen waren weit aufgerissen, als sei er nicht ganz bei Verstand.
    Rex hob den Kopf, legte die Ohren zurück und stieß ein langgezogenes, klagendes Heulen aus. Nach und nach stimmten alle anderen Wölfe in das Geheul ein. Der Mann krümmte sich noch mehr vor, und seine Hände umklammerten den Zaun so fest, daß seine Fingerknöchel weiß wurden. Rex, der zu heulen
aufgehört hatte, lief langsam, mit gesenktem Kopf auf den Mann zu.
    „Nehmen Sie lieber die Finger vom Zaun weg!“ rief Chris, doch der Mann beachtete sie überhaupt nicht. Dicht vor dem Zaun blieb Rex stehen. Die ganze Situation wurde immer sonderbarer. Der Leitwolf zeigte überhaupt keine deutbare Reaktion, nichts, was auf Angst, Wut oder freudige Überraschung hingedeutet hätte. Seine Ohren waren nicht angelegt, der Schwanz ruhig, kein Knurren, Wuffen oder Winseln war zu hören. Er stand einfach nur da und betrachtete den Fremden aufmerksam aus der Nähe. Nun kamen auch die anderen Wölfe heran, genauso ruhig und lautlos wie Rex. Schließlich hatte sich das ganze
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