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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses
Autoren: Henry Miller
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lange aus dem Weg gegangen zu sein. Ich fragte ihn mit mehr als gewöhnlicher Neugierde, wie die Dinge standen. Er antwortete mir ziemlich vage und mit einem Klang der Verzweiflung in der Stimme.
    «Ich habe gerade Erlaubnis bekommen, zur Bank zu gehen», sagte er in einer merkwürdig gebrochenen, bedrückten Art. «Ich habe ungefähr eine halbe Stunde Zeit, nicht mehr. Sie kontrolliert mich genau.» Und er ergriff meinen Arm, als wollte er mich hastig von der Stelle fortziehen.
    Wir gingen die Rue de Rivoli hinunter. Es war ein schöner Tag, warm, klar, sonnig, einer von jenen Tagen, an denen Paris sich von seiner besten Seite zeigt. Eine milde, wohltuende Brise wehte, die gerade stark genug war, um einem den abgestandenen Geruch aus der Nase zu nehmen. Fillmore war ohne Hut. Äußerlich war er ein Bild der Gesundheit, wie der amerikanische Durchschnittstourist, der mit Geld in der Tasche klimpernd dahinschlendert. «Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll», sagte er ruhig. «Du mußt etwas für mich tun. Ich bin hilflos. Ich kann mich nicht zusammenreißen. Wenn ich mich nur für eine kleine Weile von ihr frei machen könnte, dann käme ich vielleicht richtig los. Aber sie läßt mich nicht aus den Augen. Ich habe nur eben Erlaubnis erhalten, zur Bank zu laufen, ich mußte etwas Geld abheben. Ich gehe jetzt ein Stückchen mit dir, und dann muß ich nach Hause eilen, sie wird mit dem Essen auf mich warten.»
    Ich hörte ihm schweigend zu, wobei ich für mich dachte, daß er wahrhaftig jemanden brauchte, der ihn aus der Patsche herauszog, in der er steckte. Er hatte in allem nachgegeben, nicht ein Restchen Schneid war mehr in ihm übrig. Er war ganz wie ein Kind, ein Kind, das jeden Tag geschlagen wird und nicht mehr weiß, wie es sich benehmen soll, und sich immer nur duckt und kriecht. Als wir unter dem Säulengang der Rue de Rivoli gingen, brach er in eine lange Schimpfkanonade gegen Frankreich aus. Er hatte die Franzosen satt. «Früher schwärmte ich von ihnen», sagte er, «aber das war alles Literatur. Ich kenne sie jetzt … Ich weiß, wie sie wirklich sind. Sie sind grausam und käuflich. Zuerst scheint alles wundervoll, weil man das Gefühl der Freiheit hat. Nach einer Weile widert es einen an. Unter der Oberfläche ist alles tot: es gibt kein echtes Gefühl, keine Sympathie, keine Freundschaft. Sie sind zutiefst selbstsüchtig. Das selbstsüchtigste Volk auf der Erde! Sie denken an nichts anderes als an Geld, Geld und nochmals Geld. Und sie sind so verdammt achtbar, so gut bürgerlich! Das macht mich ganz krank. Wenn ich Ginette meine Hemden flicken sehe, könnte ich sie verdreschen. Immer flicken und flicken. Sparen, sparen. Faut faire des économies! Das ist alles, was ich sie den ganzen Tag sagen höre. Man hört es überall. Sois raisonnable, mon chéri! Sois raisonnable! Ich will nicht vernünftig und logisch sein. Ich habe es dick! Ich will losgehen und mich amüsieren. Ich will etwas tun . Ich will nicht in einem Café sitzen und den ganzen Tag schwätzen. Wir haben, weiß Gott, unsere Fehler, aber wir sind begeisterungsfähig. Es ist besser, Fehler zu begehen, als nichts zu tun. Lieber wäre ich ein Landstreicher in Amerika, als hier bequem herumzusitzen. Vielleicht kommt das daher, daß ich ein Yankee bin. Ich bin in Neu-England geboren und gehöre wohl dorthin. Man kann nicht über Nacht zum Europäer werden. Es steckt einem etwas im Blut, was einen anders macht. Es ist das Klima und all das. Wir sehen die Dinge mit anderen Augen. Wir können uns nicht umkrempeln, wie sehr wir auch die Franzosen bewundern. Wir sind Amerikaner und müssen Amerikaner bleiben. Gewiß, ich hasse diese puritanischen Brüder bei uns daheim, hasse sie sogar von ganzem Herzen. Aber ich bin selber einer von ihnen. Ich gehöre nicht hierher. Ich habe es satt.»
    Den ganzen Weg unter den Arkaden fuhr er in dieser Tonart fort. Ich sagte kein Wort. Ich ließ ihn alles heraussprudeln, es tat ihm wohl, es sich vom Herzen zu reden. Trotzdem dachte ich, wie seltsam es doch war, daß dieser selbe Mensch noch vor einem Jahr sich wie ein Gorilla an die Brust geschlagen und gesagt hatte: «Was für ein herrlicher Tag! Was für ein Land! Was für ein Volk!» Und wenn zufällig ein Amerikaner hergegangen wäre und ein Wort gegen Frankreich gesagt hätte, dann hätte ihm Fillmore die Nase plattgeschlagen. Noch vor einem Jahr wäre er für Frankreich gestorben. Ich sah nie einen Menschen, der so hingerissen von einem Land war, so
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