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Wells, ich will dich nicht töten

Wells, ich will dich nicht töten

Titel: Wells, ich will dich nicht töten
Autoren: Dan Wells
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unterstützte die Annahme. In diesem Verhalten erkannte ich meine eigene Vorsicht wieder. Die Täterin wäre demnach nur schwer aufzuspüren. Doch das war noch nicht alles – es passte zum Rest des Angriffs und passte doch wieder nicht zusammen. Während der Arbeit dachte ich weiter darüber nach.
    Mutter verteilte inzwischen Vaseline im Innern der Brusthöhle, bis ringsum eine hohe Schicht entstanden war. Sie musste mit dem ganzen Arm hineingreifen, um sicher zu sein, dass sie alle Stellen erreichte. Der Gerichtsmediziner sägte bei einer Autopsie immer das Brustbein durch und klappte die Rippen weg, wenn er im Oberkörper arbeiten wollte. Mom tat das jedoch nicht gern, sondern ließ alles lieber liegen, wo es war, und behalf sich, so gut sie konnte.
    »Ich bin innen fertig«, erklärte sie nach einer Weile.
    Ich nickte. »Vorn bin ich auch so weit, jetzt müssen wir ihn umdrehen.«
    Wir stellten das Vaselinegefäß weg und packten den Toten von der linken Seite: ich an der Schulter, Mom an den Hüften. So rollten wir ihn auf den Bauch. Auf einmal keuchte sie erschrocken auf, und wir starrten auf den Körper.
    »Ich glaube, dazu brauchen wir einen zweiten Topf Vaseline«, sagte ich.
    Der Rücken war voller Löcher, vermutlich Stichwunden – einige zackig, alle tief und tödlich. Jedes Loch für sich allein hätte den Mann umgebracht. Die beiden Löcher, in welche die Pfähle eingedrungen waren, erkannte ich sofort. Sie waren größer und runder als die anderen. Die Polizei hatte jedoch kein Wort über die vielen zusätzlichen Verletzungen des Rückens verloren. Ich berührte eine Wunde ganz leicht und überlegte, wie sie entstanden sein mochte – durch eine einzelne Kralle oder gar eine Hand voller Krallen? Rasch musterte ich den Körper und suchte nach einer etwaigen Regelmäßigkeit, doch die Verteilung schien willkürlich.
    Die Löcher waren gezackt und blutig, feucht von purpurnem und schwarzem Blut wie bei einer aufgeplatzten Prellung. Die ganze Haut war zerfetzt und mit beinahe animalischer Grausamkeit zerstört worden. Hier war nichts mehr von der sauberen, gewissenhaften Vorgehensweise zu sehen, die mir zuvor aufgefallen war.
    »Was, um Himmels willen, hat er nur getan?«, flüsterte Mom. Es war ein schrecklicher Anblick, auch noch nach sechs Tagen und in einem sterilen Behandlungsraum. Margaret unterbrach die Arbeit und kam zu uns herüber. Mom warf mir einen Blick zu, zog die Augenbrauen hoch und stellte mir eine stumme Frage.
    »Ach, du …«, murmelte Margaret und berührte vorsichtig den Toten. »Haben sie etwas darüber in den Nachrichten gemeldet?«
    »Kein Wort«, erklärte ich. »Ich wüsste auch nicht, dass so etwas bei den anderen Morden des Handlangers vorgekommen wäre.«
    »Das sieht aus, als hätte er mindestens dreißigmal zugestochen«, mutmaßte Margaret. »Oder sogar noch öfter.«
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte Mom, ohne den Blick von mir zu wenden.
    »Ja, was hat das zu bedeuten?«, wiederholte ich.
    »Du bist doch der Experte, oder?« Ihr Tonfall war schwer zu deuten – wütend, neugierig, verzweifelt. Alles zugleich. Allerdings konnte ich nicht erkennen, gegen wen sich ihre Wut richtete. »Du bist hier derjenige, der sich mit solchen Fragen beschäftigt. Was hat das zu bedeuten?«
    Ich betrachtete den Körper. »Die Polizei hat die Informationen zurückgehalten. Wahrscheinlich wollte man nicht, dass die Leute ausrasten, aber vor allem ist es ein wichtiges Merkmal. Es ist … wie eine Unterschrift, die niemand außer dem Killer kennt. So weiß die Polizei genau, welchen Mord der Handlanger und welchen ein Nachahmungstäter verübt hat. Es hilft auch dabei, die Briefe, die bei der Polizei oder den Medien eingehen, richtig einzuordnen. Falls im Brief Einzelheiten erwähnt werden, die die Polizei zurückgehalten hat, weiß man, dass es ein echter Brief vom echten Killer ist.«
    »Passiert so was öfter?«, fragte Margaret.
    »Öfter, als man glaubt«, erklärte ich. »Viele Serienmörder mischen sich gern in die Ermittlungen ein, die gegen sie laufen.«
    »Aber was sagt uns das über den Killer?«, fragte Mom. Sie starrte mich unverwandt an und beobachtete mich mit durchdringendem Blick. »Was verrät das über die … über die Person, die die Tat begangen hat?«
    Ich erwiderte den Blick einen Moment lang, dann konzentrierte ich mich wieder auf den Toten. Fragte sie nach dem Dämon?
    »Es bedeutet, dass sie wütend ist«, erwiderte ich.
    »Sie?«, fragte Margaret
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