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Weiße Nebel der Begierde

Titel: Weiße Nebel der Begierde
Autoren: Jaclyn Reding
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noch in dieser späten Jahreszeit gingen die Farben in unterschiedlichen Schattierungen ineinander über wie in einem Kaleidoskop aus Aquarell-Gemälden.
    Die schwärzesten Rinder, die Eleanor jemals gesehen hatte, grasten auf den grünen Weiden über der steinernen Mole, die der einzige Anlegeplatz der Insel war - dort war sie vor noch nicht einmal einer Stunde an Land gegangen. Flauschige Schafe mit schwarzen Gesichtern standen verstreut auf der sanften Hügeln, und an der entfernten Küste machte Eleanor etliche Cottages von Kleinbauern aus, die aussahen eher wie schiefe Steinhaufen, die mit Stroh oder grünen Rasenstücken gedeckt waren.
    Ein Hund bellte mit tiefer Summe und Eleanor drehte sich in die Richtung, aus der der Laut kam. Aber sie sah keinen Hund, sondern einen Menschen auf einem Felsen, von dem aus man das Meer überblicken konnte. Das Bild der Einsamkeit, die diese vom Wind umwehte Gestalt vermittelte, weckte Eleanors Aufmerksamkeit. Ein kleines Teleskop aus Messing stand auf dem Tisch neben dem Fenster. Neugierig geworden bückte sie sich und spähte hindurch, um besser sehen zu können.
    Es war ein Kind, ein Mädchen. Rabenschwarzes, vom Wind zerzaustes Haar, das ihr über das Gesicht und die Augen wehte, aber die Kleine schien das überhaupt nicht zu bemerken. Genauso wenig nahm sie das Lämmchen zur Kenntnis, das neben ihr stand und an ihrer Schärpe knabberte. Sie saß einfach nur da, reglos wie ein Stein, und die Einsamkeit, die sie einhüllte, war überwältigend und ebenso offenkundig wie der unheimliche Dunst, der um die Küste der Insel waberte.
    Das war ganz bestimmt die Tochter des Viscounts, Eleanors möglicher Schützling.
    »Tut mir Leid, dass ich Sie so lange habe warten lassen.«
    Eleanor zuckte von dem Teleskop zurück und hätte es dabei um ein Haar umgeworfen. Sie hat-te das Kind so gebannt beobachtet, dass sie die Schritte nicht gehört hatte. Und diesmal konnte kein Zweifel darüber bestehen, wen sie vor sich hatte.
    Er war wahrlich nicht klein, sondern im Gegenteil der imposanteste Mann, dem Eleanor je begegnet war. Er würde sogar noch ihren Bruder überragen, hatte breite Schultern und seine bloße Anwesenheit ließ den Raum viel kleiner wirken. Eleanor beobachtete ihn, als er auf seinen Schreibtisch zuging. Sein schwarzes Haar reichte ihm bis über den Kragen. Er trug ein Plaid in Dunkelrot, Weiß und Grün lässig über das dunkle Woll-Jackett geworfen. Der Hemdkragen darunter war offen, und sein Gesicht hatte dunkle Schatten dort, wo der Bart spross - er sah aus, als hätte er sich ein paar Tage nicht mehr rasiert. Seine Tartan-Strümpfe und die Schnallenschuhe waren schmutzig und der Wind hatte ihm die Haare aus der Stirn geblasen. Die Augen waren so dunkel, dass Eleanor die Farbe nicht erkennen konnte, sein Mund zeigte nicht den Hauch eines Lächelns. Bei seiner Erscheinung und Ausstrahlung drängte sich Eleanor der Gedanke auf, dass der Titel »Teufel von Dunevin Castle« ausgezeichnet zu ihm passte.
    Ihr Herz klopfte heftig.
    »Ich bin Dunevin«, sagte er, »Laird dieses Schlosses und der Insel. Ich bin derjenige, der die Anzeige aufgehängt hat, die Sie in Oban gesehen haben. Bitte, möchten Sie nicht Platz nehmen?«
    Er redete wie jemand, der im Süden erzogen worden war, nur mit einem Hauch der landestypi-schen gutturalen Laute. Seine Stimme war tief und fesselnd wie das entfernte Donnergrollen vor einem Unwetter. Eine solche Stimme jagte jungen Mädchen Schauer über den Rücken.
    Eleanor gehörte zu diesen Mädchen.
    Dunevin deutete auf den Stuhl, auf dem sie vorher schon gesessen hatte und sagte ohne weitere Umschweife: »Fergus hat mir nicht gesagt, dass Sie so jung sind.«
    Eleanor war noch immer ganz benommen von seinem Anblick, seiner Stimme und seinem Auftreten, so dass sie einen Moment brauchte, bis sie antworten konnte: »Wie bitte?«
    »Wie alt sind Sie, Miss - achtzehn?«
    Seine direkte, beinahe unverschämte Art riss sie aus der Erstarrung, und sie erwiderte nach einem Räuspern: »Ich bin einundzwanzig, Mylord.«
    Er zog eine Augenbraue hoch. »Tatsächlich? Einundzwanzig?«
    »Na ja, beinahe.« Sein unverwandter Blick machte sie unruhig. »Jedenfalls kann ich Ihnen versichern, dass ich der Aufgabe gewachsen bin.«
    Der Viscount musterte sie und versuchte sie einzuschätzen, dessen war sie sich bewusst. Er fragte sich, was eine anscheinend vornehme junge Dame an einem gottverlassenen Ort wie Trelay zu suchen hatte. Sein Schweigen war
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