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Weiße Nebel der Begierde

Titel: Weiße Nebel der Begierde
Autoren: Jaclyn Reding
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brauchte.
    Ein Geräusch - Schritte, die näher kamen - ließ sie zusammenzucken.
    Er kommt.
    Ihr Mut löste sich in Nichts auf und sie krallte sich an den geschnitzten Armlehnen des Stuhles fest. Was sollte sie sagen, wenn er hereinkam? Guten Tag, Mylord. Ja, ich bin gekommen, um mich für die Stellung als Gouvernante Ihres Balgs - Verzeihung Ihres Kindes — zu bewerben. Und ich möchte Sie bitten, mich nicht dunklen Mächten zu opfern, solange ich in diesem Haus wohne...
    Was, wenn er tatsächlich so Furcht einflößend war, wie alle sagten? Mrs Maclver hatte ihr erzählt, dass das Kind nicht sprechen könne - der Vater habe ihm die Stimme geraubt, um zu verhindern, dass es die Wahrheit über seine teuflischen Taten verriet. Und was war mit der früheren Gouvernante geschehen?
    Eleanors Blick huschte von dem Dolch an der Wand zum Fenster, und sie überlegte, wie tief sie springen müsste, wenn sie die Flucht ergreifen wollte.
    »Ich bringe Ihnen Tee.«
    Eleanor erschrak bis ins Mark, als die Stimme gleich hinter ihr ertönte. Sie drehte sich um und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Nicht der teuflische Viscount, den sie erwartet hatte, sondern der alte weißhaarige Kauz, der ihr auch das Schlossportal geöffnet hatte, stand hinter ihr. Sie hatte nicht gehört, wie er hereingekommen war.
    Der Mann hätte aus den Seiten eines Geschichtsbuches getreten sein können; er trug bunte Tartan-Trews - die enge schottische Hose -und eine Schottenmütze mit Feder, die untere Hälfte seines Gesichts war von einem dichten grauen Bart verdeckt. Er war kleiner als sie und hatte den grimmigen Ausdruck eines Inselbewohners, der ständig die Augen gegen den scharfen Wind zusammenkneifen muss. Er erinnerte sie an die Stiche, die kämpfende Highland-Krieger darstellten, aber er hielt kein Langschwert in den Händen, sondern ein silbernes Tablett.
    »Seine Lairdschaft bittet um Vergebung. Er wurde noch aufgehalten.«
    Ohne auf eine Antwort zu warten, stellte der Mann das Tablett ohne weitere Umschweife auf den Tisch neben ihrem Stuhl und drehte sich um. Er ging so schnell, wie er gekommen war.
    Die Damen in Miss Effingtons Institut wären entsetzt gewesen.
    Eleanor wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte und noch eine kleine Weile länger, dann hob sie den Deckel von der Porzellankanne und spähte argwöhnisch hinein. Das Gebräu sieht eindeutig wie Tee aus, dachte sie und schnupperte daran. Sie hatte einmal gelesen, dass Arsen einen mandelartigen Geruch hatte. Sie beäugte den kleinen Teller und untersuchte die Plätzchen, die mit Zimt und Zucker bestäubt waren, eingehend.
    Ihr erster Gedanke war natürlich, alles unberührt zu lassen, aber ihr Magen hatte andere Ideen und gab ein lautes Knurren von sich. Die Überfahrt vom Festland hatte Stunden gedauert; jetzt war es fast Abend und sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Vielleicht würden ein paar Schlucke Tee und ein Bissen von den Plätzchen ihre Nervosität beschwichtigen. Außerdem konnte sie es kaum vermeiden, Mahlzeiten in diesem Haus zu sich zu nehmen, wenn sie die Stelle als Gouvernante annahm.
    Sie schlug jede Vorsicht in den Wind, nahm ein Plätzchen und biss hinein.
    Es schmeckte köstlich, und sie aß das eine auf und dann noch ein anderes, bevor die Zeiger der
    Uhr um eine Viertelstunde weitergerückt waren. Das dritte Plätzchen ließ sie auf dem Teller liegen, und als sie die Tasse Tee ausgetrunken hatte, stand sie auf und wanderte in dem Zimmer herum, in der Hoffnung, so ihre nagende Angst lindern zu können. Sie blieb hin und wieder stehen, um sich das eine oder andere genauer anzusehen - einen Globus, der die Konstellationen der Gestirne zeigte, eine Uhr mit einem Zeiger und eingravierten Delphinen - und versuchte anhand der Objekte herauszufinden, was für ein Mann der Viscount sein mochte.
    Sie studierte nachdenklich die Titel der Bücher und war mehr als nur ein wenig beeindruckt von der Sammlung. War er ein belesener Mann mit vielseitigen Interessen? Oder waren die vielen Folianten im Laufe von Generationen zusammengetragen worden? Die Angelrute und die wasserfesten Stiefel in der Ecke ließen darauf schließen, dass er Freizeitbeschäftigungen liebte, die Geduld voraussetzten. Die Größe der Stiefel deutete darauf hin, dass er nicht gerade klein war.
    Eleanor kam zum Fenster und betrachtete das dramatische Panorama. Im Gegensatz zu der trostlosen Steinküste war die Inselmitte erstaunlich fruchtbar und farbenfroh, sogar
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