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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land
Autoren: Martina Sahler
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vor den Mund, um den Laut wie von einem gequälten Tier zu unterdrücken.

    Eleonoras und Klaras Augen waren immer noch rot verquollen, als die drei Schwestern wenig später in der Stube saßen und in kleinen Schlucken heiße Milch tranken. Gleich würde der Tischler klopfen. Wie stets würde er der erste Dorfbewohner sein, der Eintritt ins Trauerhaus erhielt, um die Maße für den Sarg zu nehmen.
    Sie wärmten ihre klammen Finger an den Bechern, aber die innere Kälte blieb.
    »Wie geht es weiter mit der Weberei?«, fragte Klara schließlich. Sie streckte Sophia einladend die Arme entgegen, aber das Kind kuschelte sich nur noch enger auf dem Schoß der jungen Mutter zusammen. Eleonora schlang die Arme um ihr Töchterchen, als müsste sie es beschützen vor dem Tod, der durch das Haus geschlichen war und sich geholt hatte, wonach ihn verlangte.
    »Gar nicht geht es weiter mit der Weberei«, gab Christina zurück. Der Tod der Mutter verursachte ein wehes Ziehen in ihrem Herzen. Andererseits kam er nicht unerwartet – sie hatten sich seit vielen Wochen, in denen die Mutter das Bett nicht mehr verlassen hatte und nicht einmal die dünne Suppe bei sich behalten konnte, darauf vorbereitet.
    Klara erstarrte.
    Eleonora blickte ihre Schwester an. »Was hast du vor?«
    Noch bevor sie antworten konnte, sprang Klara so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden polterte und gegen das hölzerne Spinnrad stieß. Mit dem Zeigefinger wies sie auf ihre Schwester, als wollte sie sie aufspießen. »Du hast es ihr versprochen! Du hast versprochen, dass du dich um die Weberei kümmerst. Kaum ist sie tot, da brichst du deinen Schwur schon wieder. Ich hasse dich, Christina, ich hasse dich so sehr!« Die Tränen zogen Spuren durch den Schmutz auf ihren Wangen.
    Christina schüttelte den Kopf. »Denk nach, Klara. Ich habe Mutter nichts versprochen, was mit der Weberei zu tun hat. Das warst du.«
    Klara fiel der Kiefer herab. Sie rückte das Spinnrad zurecht, hob den Stuhl wieder auf und ließ sich auf die geflochtene Sitzfläche plumpsen. »Wie … wie meinst du das? Eleonora, du hast gehört, was Christina gesagt hat, oder? Kümmern wollte sie sich!« Flehend wandte sie sich an ihre Lieblingsschwester.
    Eleonora vergrub die Nase in den dichten Haaren ihrer Tochter, deren Farbe von Holunderbeeren sie ihr vererbt hatte. Die dunkelhaarige junge Mutter mit den saphirblauen Augen, den markanten schmalen Brauen, den weichen Gesichtszügen und den vollen Lippen und das Mädchen in ihrem Arm, das ihr jüngeres Ebenbild war, boten einen Anblick, der jedem Maler entzückt hätte. Nur der trauernde Ausdruck störte den Moment der Schönheit. »Man muss vorsichtig sein mit Schwüren, Klara. Niemals darf man leichtfertig etwas versprechen, von dem man nicht weiß, ob man es halten kann. Wie sollte es uns ohne Mutter gelingen, dem Flachsanbau, der Spinnerei, dem Weberbetrieb neuen Aufschwung zu geben, wenn es uns schon mit ihr nicht gelungen ist? Ich weiß, wie sehr sie es sich wünschte, aber bei klarem Verstand hätte sie das niemals von uns verlangt. Es ist unmöglich. Wir haben in den vergangenen Jahren nichts unversucht gelassen, und trotzdem … Am Ende wissen wir nicht einmal, wie wir den Tischler bezahlen sollen, der ihren Sarg zimmert.« Sie schluckte.
    »Es ging ihr darum, dass wir versorgt sind«, widersprach Klara. »Was haben wir denn sonst außer dem Geschäft mit der Leinwand? Wovon sollen wir leben?« Eleonora gegenüber verlor ihre Stimme an Schärfe, auch wenn sie immer wieder bitterböse Blicke in Christinas Richtung warf.
    Diese lauschte dem Gespräch ihrer Schwestern, während sie den Becher auf dem Tisch in den Händen drehte. Einzelne Locken ihrer Haarpracht, die sie unter einer Haube mit Klammern und Spangen zu bändigen versuchte, ringelten sich um ihr herzförmiges Gesicht. Die Wimpern warfen sichelförmige Schatten auf ihre Wangenknochen, als sie die Lider senkte.
    War dies nun der rechte Zeitpunkt, um die Schwestern in ihre Pläne einzuweihen? Die Mutter war kaum eine Stunde tot …
    Ein Winkelzug des Schicksals, dass ausgerechnet Pastor Jäckel den Weg gewiesen hatte. Das hatte er sich doch stets gewünscht, oder? Seit er vor fünf Wochen nach dem Gottesdienst das Manifest der russischen Zarin Wort für Wort, kommentarlos und mit stoischer Miene der Gemeinde der Protestanten vorgetragen hatte, war Christina wie besessen von der Idee, alle Brücken abzubrechen und in der Fremde ein neues Leben zu beginnen. Alles,
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