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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land
Autoren: Martina Sahler
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schmalen Holzbett etwas wie der Hauch des Todes, den Theresa Weber mit jedem Ausatmen verströmte.
    Christina setzte sich links von ihr auf den einzigen Hocker. Das Holz knarrte. Rechts von ihr ging Eleonora auf die Knie. Klara kauerte sich ans Fußende, umklammerte durch die Laken hindurch die Beine der Mutter und bettete den Kopf in ihren Schoß, während die Tränen über die Kinderwangen liefen.
    »Mutter …« Christinas Stimme klang belegt, als sie das Gesicht der Sterbenden betrachtete. Wächsern wölbten sich die Wangenknochen unter der grauen Haut. Die Augen lagen tief in den Höhlen, von Schatten umgeben. Der Mund war eingefallen, die Lippen nach innen geglitten, die Unterlippe bebte bei jedem Ausatmen, das der Sterbenden Mühsal zu bereiten und den letzten Rest ihrer Lebenskraft zu kosten schien. Ihre Brust hob und senkte sich unter dem Tuch.
    Theresa griff nach Christinas Ellbogen, mit der Rechten tastete sie nach Eleonora, die die knochigen Finger der Mutter mit beiden Händen umfing. Theresas Blick unter halbgeschlossenen, wimpernlosen Lidern heftete sich auf Christina. »Du musst es mir versprechen«, hauchte sie.
    Christinas Herz begann zu pochen, während sie näher mit dem Ohr an den Mund der Sterbenden ging. »Was soll ich dir versprechen, Mutter? Was?«
    »Du musst mir versprechen, dass du dich um deine Schwestern kümmerst. Dass du die Weberei fortführst mit allen Kräften, zu denen du fähig bist …« Ein heftiger Hustenanfall unterbrach Theresa. Kraftlos röchelte sie und atmete pfeifend ein. Endlich beruhigte sie sich so weit, dass sie fortfahren konnte. »Die Weberei ist alles, was ihr besitzt. Ihr müsst neue Kunden gewinnen, reichere Kunden, bessere Garne erwerben, nicht nur den Flachs von der Wiese verspinnen … Der Pastor wird euch helfen …«
    »Mutter, die Weberei … ich … Ich verspreche dir, dass ich die Schwestern nicht im Stich lasse. Wir werden einen Weg finden. Du kannst in Frieden schlafen, wir werden es schaffen …«
    »Die Weberei, Christina, das Lebenswerk eures Vaters. Er hat es sich so sehr gewünscht …«
    »Ja, Mutter, wir versprechen es!« Klaras helle Mädchenstimme unterbrach das Flüstern der beiden. »Wir versprechen, dass wir die Weberei fortführen! Ich werde von morgens bis abends am Webstuhl sitzen, des Nachts das Spinnrad treten und mich bis nach Büdingen umhören, wo Leinwand vonnöten ist, damit wir neue Aufträge bekommen.«
    Christina schoss ihr einen strafenden Blick zu, sah dann zu Eleonora, die die Stirn auf die Hand der Mutter gedrückt hielt. Ihre Schultern bebten.
    Christina strich der Mutter die verfilzten Haare aus dem Gesicht. »Ich werde mich um alles kümmern. Du kannst dich auf mich verlassen. Uns wird es bessergehen als jemals zuvor, das schwöre ich dir beim Andenken unseres Vaters.«
    Eigentlich hätte es Eleonora zugestanden, dieses letzte Gespräch mit der Mutter zu führen. Mit ihren einundzwanzig Jahren war sie die älteste der drei Weber-Töchter, Christina ein Jahr jünger. Klara war gerade erst acht geworden.
    Es stellte aber schon seit vielen Jahren unter den Weber-Frauen niemand in Frage, dass Christina bei allen wichtigen Entscheidungen das Sagen hatte. Wie lebenstüchtig, schlau und zäh sie war, hatte sie bei vielerlei Gelegenheiten in ihrem Weiberhaushalt bewiesen. Sie war diejenige, die immer einen Laib Brot, einen Korb Eier oder ein Huhn von irgendwoher auftrieb, wenn der Hunger gar zu sehr drückte. Die irgendein Mannsbild – einen Knecht vom Nachbarhof, einen Gesellen auf der Wanderschaft – ins Haus schob, wenn der alte Webstuhl im Kellergewölbe mal wieder hakte und sich festgezurrt hatte. Die eine Handvoll fröhlicher Mägde überredete, beim Spinnen zu helfen, und ihnen dafür als Lohn im Weber-Haus lustige Gesellschaft mit den Burschen aus der Nachbarschaft bot.
    Christina füllte diese Führungsrolle in der Familie mit Selbstverständlichkeit aus. Eleonora war nicht der Typ Frau, der sie ihr streitig machte. Klara war von einem anderen Schlag, aber wiederum viel zu jung, als dass sie überhaupt jemand ernst nahm.
    »Ruhe in Frieden, Mutter«, flüsterte Eleonora nun, da die Atemzüge der Mutter immer dünner wurden und sich ein Engelslächeln wie von einem Neugeborenen auf ihren Zügen ausbreitete.
    »Ruhe in Frieden«, hauchte auch Christina in dem Moment, als Theresa ihren letzten Atemzug tat und die Luft kaum vernehmbar zwischen ihren Lippen ausströmte.
    Klara schluchzte auf und schlug die Hand
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