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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land
Autoren: Martina Sahler
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Eheschließung fast in jedem Jahr ein Kind bekommen und damit einen beachtlichen Beitrag zum Wachstum der Kolonie geleistet. Und alle durchliefen sie die Kinderstube und die Schule, die Veronica und Anton von Kersen trotz drei eigener Knaben mit Hingabe betrieben und Jahr für Jahr ausbauten.
    Nach jedem Kind hatte Klara ein paar Pfund mehr auf den Rippen behalten, aber die Fülle stand ihr gut zu Gesicht. Sebastian führte sie gerade zum wiederholten Mal auf die Tanzfläche, um ihre weiten Röcke bei der Polka schwingen zu lassen und sie zum Lachen zu bringen.
    Selbstverständlich durfte auch Daniel bei der Hochzeit seines Patensohnes nicht fehlen. Wie bei all seinen Besuchen war er an diesem Abend von jungen Menschen umringt, die an seinen Lippen hingen, während er von seinen Abenteuern in den Weiten des russischen Reiches erzählte.
    Aber das Schönste an diesem Fest war für Eleonora, dass es ihre geliebte Sophia einrichten konnte, ihrem Bruder zu gratulieren. Sie war aus Sankt Petersburg zusammen mit ihrem Mann Jiri angereist, einem Künstler wie sie und Dozenten an der Petersburger Akademie. Er nannte sie Sonja oder Sonjuschka, und sie sagte zärtlich moj ljubimyj zu ihm. Sophia war mehr Russin geworden als alle in der Kolonie, die überwiegend an den Gebräuchen und der Sprache der alten Heimat festzuhalten versuchten.
    Es war die richtige Entscheidung gewesen, Sophia damals ziehen zu lassen, wusste Eleonora inzwischen, auch wenn sie ihre Nähe bis zum heutigen Tag vermisste.
    Zweimal war Eleonora in all den Jahren nach Sankt Petersburg gereist: um Sophias Hochzeit zu feiern und um deren erste Ausstellung der eigenen, hochgerühmten Werke zu bewundern – und um Mascha zu treffen.
    Und Christina.
    Sie hatte erleben müssen, dass ihr die Mentorin ihrer Tochter nach all den Jahren vertrauter war als die eigene Schwester. Aber vielleicht waren Christina und sie niemals wirklich Vertraute gewesen – obwohl sie sie liebte und ihr alles Glück der Welt wünschte.
    Sie hatte sich selbst ein Bild davon machen können, wie sich Christina und Alexandra arrangiert hatten und wie viel Bewunderung ihnen für ihre Kollektionen zuteilwurde. Aber niemand wusste besser als Eleonora, dass dort in der russischen Hauptstadt nicht alles Gold war, was glänzte. Wie auch immer es Alexandra geschafft haben mochte, bei ihrer Mutter unterzuschlüpfen – Eleonora sah an den tiefen Mundfalten ihrer Schwester, an ihrem unterkühlten Blick, dass, auch wenn sie sich alle Träume aus eigener Kraft erfüllt hatte, die Tochter ein Stachel in ihrem Herzen blieb.
    Aber mussten sie nicht alle einen Preis zahlen für das, was sie Glück nannten?
    Im vergangenen Jahr war die große Katharina gestorben.
    Niemals hatte sie es geschafft, die Kolonisten zu besuchen – sosehr die Deutschen es auch gehofft hatten. Stets hatten die Zarin wichtige staatspolitische Angelegenheiten abgehalten – die Kriege gegen die Türken, der Pugatschow-Aufstand …
    Trotzdem gab es keinen Kolonisten, der sich ihr nicht zu Dank verpflichtet fühlte.
    Die Zarin war über jede Kritik erhaben. Von ihrem guten Willen, ihrer Absicht, den Einwanderern zu Wohlstand zu verhelfen, waren alle zutiefst überzeugt, obwohl sie sie im Lauf der Jahre im Stich gelassen und einer wechselvollen Bürokratie überlassen hatte – Beamten, die sie in manchen Jahren nicht besser behandelten als russische Leibeigene.
    Sie hatten vieles überlebt: den Hunger der ersten Jahre, die harten Winter und die Dürren im Sommer, die nicht leicht durchschaubare Organisation des Kolonienwesens, die Missernten und Viehseuchen, die Übergriffe der Kirgisen und Kalmücken, den Aufstand der Pugatschow-Rebellen …
    Die Trauer um die auf dem steinigen Weg Verstorbenen nistete in ihren Herzen, aber auch der Stolz darauf, trotz aller Rückschläge niemals aufgegeben zu haben. Darauf, ihre Kolonie Waidbach zum Blühen gebracht zu haben, was nicht allen Deutschen in den Siedlungen an der Wolga so beispielhaft gelungen war.
    Eleonora drückte Matthias’ Hand. Als er sie liebevoll fragend anschaute, lächelte sie versonnen, küsste ihn und dachte an eine zauberhafte Nacht auf der Ostsee vor vielen, vielen Jahren.
    Nur starke Menschen bekommen schwere Wege, hatte Matthias ihr damals ins Ohr geflüstert. Vielleicht hatten es ihm die Sterne verraten.

Nachwort
    In den Jahren zwischen 1763 und 1772 wanderten über 30000 Menschen in Russland ein, der überwiegende Teil erreichte 1766/1767 seine Zielorte.
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