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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land
Autoren: Martina Sahler
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Gesicht direkt über seinem war, ihr nackter Körper auf seinem. »Also lass uns diese Nacht genießen, als gäbe es kein Morgen für uns«, flüsterte er mit vor Erregung heiserer Stimme.
    Sie senkte ihre Lippen auf seine und küsste ihn.

    Eine Überraschung? Um Himmels willen, was für eine Überraschung? Ehe Daniel in den frühen Morgenstunden aufgebrochen war, hatte er ihr ins Ohr geflüstert, dass noch eine ganz besondere Überraschung auf sie warte. Sie hatte gebettelt und gezürnt, er möge ihr verraten, was sie erwarte, aber er hatte nur gelacht und erklärt, sie würde es früh genug erfahren. Und dass es ihm leidtue, dass er ihr Gesicht nicht sehen könne, wenn es so weit war.
    Während sie noch die Hitze in ihrem Leib und seinen Geschmack auf ihren Lippen wahrnahm, waren ihre Gedanken nur um diese verfluchte Überraschung gekreist.
    Die gemeinsame Nacht war ihnen das Leben noch schuldig geblieben. Nun hatten sie sie mit allen Sinnen genießen dürfen. Christina fürchtete sich davor, dass Daniel auf eine außerordentlich dumme Idee gekommen sein könnte. Vielleicht wollte er sie mit einem aufsehenerregenden Heiratsantrag mitten auf dem Newski-Prospekt in Sichtweite des Zarenpalastes überraschen? Himmel, bloß das nicht! Sie hoffte, dass sie ihn in ihrer Liebesnacht richtig verstanden hatte: Er war genauso wenig wie sie an einem gemeinsamen Alltag interessiert. Ja, sicher liebten sie sich, vielleicht war es die einzige wahre Liebe, die man im Leben erfahren durfte, aber deswegen durfte sich doch keiner von beiden zum Narren machen und in einer pathetischen Geste alles zerbrechen, was sie sich erkämpft hatten.
    Christinas Bewegungen waren fahrig, ihre Gedanken zerstreut, als sie an diesem Morgen die am Vorabend eingetroffene Ware in die Regale und auf die Garderobenständer drapierte. Im Hinterzimmer werkelten fünf Näherinnen schweigend, im Verkaufsraum bediente Madame Fedorowna ein gut betuchtes Schwesternpaar.
    Da öffnete sich mit einem hellen Bimmeln die große Ladentür und ein junges Mädchen setzte behutsam einen Schritt ins Geschäft. Sie trug ein offensichtlich teures, aber aus der Mode gekommenes Kleid aus grüner Seide und einen unter dem Kinn mit einer Schleife geknoteten Strohhut, unter dem dünnes rotblondes Haar hervorlugte. Ihr Blick huschte wie bei einer Maus hin und her, bis er endlich an Christina hängenblieb. Der kleine Mund verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln, während sie näher kam.
    Christina starrte das Mädchen an.
    Wie groß sie geworden war! Fast so groß wie sie. Wie alt war sie jetzt? Knapp vierzehn. Im September hatte sie Geburtstag. Das Kleid spannte in der Taille. Achtete niemand darauf, dass sie sich ihre Figur nicht ruinierte? Und diese Haare! Warum nahm sich keiner die Zeit, ihr den Umgang mit dem Brenneisen zu zeigen? Ein paar Kringellocken an den Schläfen würden Wunder wirken bei ihrem maskenhaften Gesicht.
    »Da bin ich, Mama.«
    »Alexandra …« Christina fasste sie an den Schultern und küsste die Luft links und rechts neben ihren Wangen. Das also war die Überraschung, von der Daniel gesprochen hatte. Nun, die war ihnen gelungen. Mit allem hätte sie gerechnet, aber nicht damit, ihre Tochter wiederzusehen.
    Sie war ihr fremd wie vor acht Jahren, als sie sie verließ.
    Eine junge, unscheinbare Person ohne Esprit, ohne Charme, aber mit einem stummen Flehen in den Augen, das sie heute so unangenehm berührte wie in den Jahren zuvor.
    Nun, immerhin hatte Christina Verständnis dafür, dass die Tochter sehen wollte, wie es der Mutter ergangen war. Sie nahm sich vor, während ihres Besuchs zuvorkommend und höflich zu sein und ihr alles zu zeigen, was zu ihrem Leben gehörte. Die Stadtwohnung, den Landsitz vor den Toren von Sankt Petersburg, das Handelshaus … Wenn sie überhaupt so lange blieb. Gewiss würde sie sich nach Daniel richten müssen, wenn er beschloss, dass es Zeit zum Aufbruch war.
    »Fein, dass du mich besuchst«, sagte Christina, nahm Alexandras Hände und hielt sie auseinander, um die Tochter von oben bis unten betrachten zu können. Alexandra senkte verlegen die Lider. »Und eine wunderbare Gelegenheit, dich ganz neu einzukleiden. Was hältst du davon?«
    Beim Lächeln zeigte Alexandra ein Stück blitzender Schneidezähne.
    »Aber komm erst einmal in den Salon! Ich lasse uns Tee bringen, und dann erzählst du mir, wie es dir ergangen ist. Wie es meiner Schwester geht, Sophia, Klara … Auch wenn wir uns ab und an Briefe schicken, im
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