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Weiße Nächte, weites Land

Weiße Nächte, weites Land

Titel: Weiße Nächte, weites Land
Autoren: Martina Sahler
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ließ, von anderen, was ihr nicht entging. Sollte er doch! Solange ihn das ruhig hielt, war sie zufrieden mit diesem Arrangement. Dass sie sich immer wieder heimliche Liebhaber gönnte, verstand sich von selbst. Allerdings glaubte sie nicht, dass André mit derselben Gefühlskälte wie sie darüber hinwegblicken würde, falls es ihm hinter vorgehaltenem Fächer zugetragen würde. Also tat sie ihr Möglichstes, um kein Aufsehen zu erregen.
    André war ein schwächlicher Mann, doch gefährlich an ihm war sein Stolz. Wenn er jemals erfahren sollte, dass sie ihn damals nicht aus Liebe, sondern aus reiner Berechnung geheiratet hatte, wenn ihm jemals zu Ohren kommen sollte, dass sie von Anfang an andere Männer gehabt hatte – Christina war sich sicher, dass er daraus die folgenschwersten Konsequenzen ziehen würde. Ohne ihn an ihrer Seite, den Erben des Modehauses Haber, würde sie so tief fallen wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Ob sie sich dann wieder aufrappeln könnte, bezweifelte Christina. Am besten tat sie daran, es nicht darauf ankommen zu lassen, und bisher hatte sie sich geschickt genug angestellt, um André nicht an ihrer Loyalität und Treue zweifeln zu lassen.
    Sie grüßte nun mit huldvoll geneigtem Kopf nach links und rechts, während sie an den nächtlichen Spaziergängern vorbeischritt, und sog tief die klare Nachtluft ein. Ihr Blick glitt zum graublauen Himmel, über den sich, wie von Zauberhand hingetupft, perlmuttfarbene Schlieren zogen.
    Eine Nacht wie geschaffen für die Liebe, ging es ihr durch den Sinn. Ein Anflug von Wehmut ließ sie seufzen.
    Zwar hatte sie die Freuden der Lust nie aus ihrem Leben gebannt, aber im Lauf der Jahre hatten sie ihre Verlockung verloren.
    Sie erinnerte sich an die fiebrige Vorfreude, an das Kichern und ungeduldige Nesteln an Schnallen und Knöpfen in ihren jungen Jahren wie an etwas, das eine andere erlebt hatte. Zu viele Männer hatten ihr Bett geteilt, es war, als wäre ihr Appetit nach einem üppigen Mahl gestillt und sie bliebe mit einem schalen Geschmack auf der Zunge zurück.
    Am aufregendsten waren noch ihre schwülheißen Stunden mit Nikolaj gewesen, einem wahren Meister der Liebeskunst. Mit seinen Fertigkeiten beglückte er nun seine siebzehnjährige Gattin Irina, die er im vergangenen Monat geheiratet hatte. Christina hatte mit wehem Herzen an dem pompösen Hochzeitsball teilgenommen – nicht, weil sie ihm das Glück nicht gönnte, sondern weil Prinzessin Irina ihr gnadenlos vor Augen führte, dass die Zeit der Jugend für sie vorüber war.
    Vielleicht hatte das Verhältnis mit Nikolaj ihre Ansprüche zu hoch geschraubt? Irgendetwas fehlte, und wenn sie sich in diesen Tagen einen Liebhaber nahm, dann nur, um ihre Sinnlichkeit lebendig zu halten. Sie wollte mit ihren dreiunddreißig Jahren keine verknöcherte Geschäftsfrau sein, deren ganzes Streben dem Profit galt. Nein, der andere Teil ihrer Persönlichkeit war ihr zu wichtig, als dass sie ihn verkümmern ließ.
    Sie erreichte das pastellgelbverputzte, von Säulen flankierte Haus, in dem sie ihre Wohnung unterhielten, und zog aus ihrem mit Rosen bestickten Ridikül den Schlüssel.
    Sie würde sich ein paar Minuten auf die Chaiselongue legen, die Schuhe abstreifen, einen Tee trinken und entscheiden, ob sie noch die Energie hatte, den Fürstenball zu besuchen. Wahrscheinlicher aber würde sie sich in ihr Bett legen und schlafen wie ein Stein.
    »Christina …«
    Sie fuhr herum, als sie hinter sich ihren Namen hörte. Geflüstert nur, ein wenig Ehrfurcht schwang mit und auch Überraschung. Einen Wimpernschlag später sah sie in die blitzenden Augen jenes Mannes, dessen Gesicht ihr Unterbewusstsein nur in ihren Träumen nach oben gespült hatte und den sie mit aller Kraft versucht hatte, aus ihrem Gedächtnis zu bannen. Jenes Mannes, den sie lange Zeit vom Schwarzen Tod dahingerafft gewähnt hatte und der dann doch wieder aufgetaucht war, lebendig und stark, wie sie ihn kannte. Sie erinnerte sich, wie ihr die Tränen über die Wangen geflossen waren, als sie Eleonoras Brief mit der Nachricht, dass er überlebt hatte, in den Händen hielt.
    »Daniel …« Auch ihre Stimme war kaum mehr als ein Wispern. Im Blick des anderen versuchten beide zu lesen, ob er noch derselbe war wie damals.
    Endlich ging ein Strahlen über Christinas Gesicht und sie flog Daniel an den Hals. Er drückte sie an sich, barg sein Gesicht in der Beuge zwischen Hals und Schulter. Sie spürte seinen Körper von der Brust bis zu den
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