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Weinprobe

Weinprobe

Titel: Weinprobe
Autoren: Dick Francis
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Mast anheben«, sagte ich. »Das tut Jack
vielleicht weh … aber Jimmy wird sonst erdrückt.«
    Alle stimmten zu. Langsam, behutsam holten wir die
Last von den beiden verletzten Männern herunter und legten den Mast auf den
Boden. Jack verstummte. Jimmy lag steif wie ein Brett. Aber sie atmeten flach.
Erleichtert fühlte ich bei dem einen, dann beim anderen nochmals den Puls.
    Wir stellten den Klapptisch über sie und krochen
vorsichtig weiter und fanden ein Mädchen, das auf dem Rücken lag, den einen Arm
über ihrem Gesicht. Ihr Rock war weggerissen worden, und das Fleisch an der
Außenseite ihres Oberschenkels war aufgeschlitzt. Es hing von der Hüfte bis zum
Knie vom Knochen herunter. Ich hielt die Zeltplane über ihrem Gesicht hoch und
sah, daß sie zu einem gewissen Grade bei Bewußtsein war.
    »Hallo«, sagte ich unbeholfen.
    Sie sah mich dunkel an. »Was ist los?« fragte sie.
    »Es hat ein Unglück gegeben.«
    »So?« Sie wirkte schläfrig, aber als ich ihre Wange
berührte, war sie eiskalt.
    »Wir holen noch einen Tisch«, sagte der erste
Tunnelbauer.
    »Und eine Decke, wenn’s geht«, ergänzte ich. »Sie
ist stark unterkühlt.«
    Er nickte. »Schock«, sagte er, und alle brachen
auf, da sie den Tisch zu dritt heranschaffen mußten.
    Ich schaute mir das Bein des Mädchens an. Sie war
ziemlich dick, und innerhalb der langen, breit klaffenden Wunde waren leicht
das cremefarbene, wabbelige Fettgewebe und die festen, roten Muskelstrange zu
unterscheiden, offen wie ein zerfleddertes Buch. Ich hatte etwas Derartiges
noch nie gesehen, und merkwürdigerweise blutete sie nicht sehr, sicher nicht so
stark, wie man erwartet hätte.
    Der Körper macht dicht, dachte ich. Die Wirkung des
Traumas; so gefährlich wie die Verletzung selbst.
    Viel konnte ich nicht für sie tun, aber ich hatte
ein Taschenmesser mit einer winzigen eingebauten Schere bei mir. Seufzend zog
ich meinen Jersey hoch und schnitt die eine Seite meines Hemdes auf, die ich
dann wenige Zentimeter unterhalb des Kragens abriß, so daß es von vorn noch
aussah, als hätte ich ein ganzes Hemd unter dem Pullover. Und ich kam mir dabei
zwar lächerlich vor, aber ich machte es trotzdem so.
    In zwei breite Streifen gerissen, ergab die
Hemdbrust einen brauchbaren Verband. Ich zog beide Teile unter ihrem Schenkel
durch, drückte das Fleisch an und band ihr Bein rings um den Knochen zusammen,
so wie man einen Braten wickelt. Besorgt schaute ich mehrmals nach dem Gesicht
des Mädchens, aber falls sie spürte, was ich tat, kann sie es nur sehr schwach
gespürt haben. Sie lag mit offenen Augen da, den Ellbogen über dem Kopf, und
das einzige, was sie überhaupt sagte, war: »Wo sind wir?« und später: »Ich versteh
das nicht.«
    »Alles in Ordnung«, sagte ich.
    »Ach so … Ja …? Gut.«
    Die Tunnelbauer kehrten mit einem Tisch, einer
Reisedecke und auch einem Handtuch zurück.
    »Ich dachte, damit könnten wir die Wunde
verbinden«, sagte der erste Tunnelbauer, »aber das haben Sie ja schon getan.«
    Wir banden das Handtuch trotzdem als zusätzlichen
Schutz um ihr Bein und hüllten sie in die Decke, dann ließen wir sie unter dem
Tisch zurück und krochen angstvoll weiter. Aber wir trafen auf niemand mehr,
dem wir helfen konnten. Wir fanden eine der Serviererinnen tot über ihrem
Tablett mit belegten Broten, ihr glattes junges Gesicht kreideweiß, und wir
stießen auf die vorstehenden Beine eines anderen Arabers; und irgendwo unter
dem Pferdetransporter waren grausige rote Schemen, die wir nicht erreichen
konnten, selbst wenn wir es gewollt hätten.
    Einstimmig traten wir alle vier den Rückweg an und hörten,
als wir an die ersehnte frische Luft kamen, das Röhren und Sirenengeheul der
amtlichen Retter über den Hügel nahen.
    Ich ging zu Flora, die auf einem Küchenstuhl saß,
den ihr jemand hinausgebracht hatte. Bei ihr waren Frauen, die sie zu trösten
versuchten, aber ihre Augen waren verschattet und starrten ins Weite, und sie
zitterte.
    »Jack ist in Ordnung«, sagte ich. »Der Mast hat ihn
getroffen. Ein Bein könnte gebrochen sein … aber es geht ihm gut.«
    Sie sah mich blind an. Ich zog meine Jacke aus und
hüllte sie darin ein. »Flora … Jack lebt.«
    »All diese Leute … unsere Gäste …« Ihre
Stimme war matt.
    »Ist das sicher … mit Jack?«
    Wirklichen Trost gab es nicht. Ich sagte ja und
drückte sie an mich, wiegte sie in den Armen wie ein Baby. Still legte sie den
Kopf an meine Schulter, noch immer viel zu schockiert, um zu
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