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Weil wir glücklich waren - Roman

Weil wir glücklich waren - Roman

Titel: Weil wir glücklich waren - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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an eine Hochzeit am Strand mochte sie angesichts ihres derzeitigen Einkommens ärgern, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie besonders lange daran denken würde. Dadurch, dass wir so nah beieinander wohnten und arbeiteten, erlebte ich unsere Mutter in ihrer neuen Alltagsroutine, und ich wusste mehr darüber als Elise. Meine Mutter und ich verbrachten nicht ständig unsere Zeit zusammen - wir hatten beschlossen, während des Schuljahres Distanz zu wahren und unser eigenes Leben zu führen, aber ich sah sie häufig in der Kantine, auch wenn wir nicht zusammen aßen. Manchmal setzte sie sich zu jemandem, der allein an einem Tisch saß, und fing ein Gespräch an - nur für den Fall, dass der oder die Betreffende gern reden wollte. Manchmal saß sie mit Gordon zusammen und manchmal mit einer anderen Frau, die stellvertretende Heimleiterin in einem anderen Wohnheim war und sogar noch älter aussah als meine Mutter.
    Damit will ich nicht sagen, dass meine Mutter generell besonders alt aussah, sondern nur verglichen mit fast allen anderen in ihrer Umgebung, mit uns hilfsbedürftigen, jungen Leuten - auch wenn uns nicht immer klar war, dass wir etwas brauchten. Sie sei sich ihres Alters bewusst, hatte sie gesagt, und könne die Uhr ständig ticken hören. Meine Mutter machte sich Sorgen um ihren Ruhestand. Sie würde Geld von meinem Vater bekommen, aber nicht genug, um ewig davon zu leben. Noch war sie sich nicht sicher, ob sie es schaffen würde, nachdem sie erst so spät wieder ins Berufsleben eingetreten war. In einem Jahr würde sie einen Abschluss in Beratungswesen und Heimleitung machen; dann könnte sie tatsächlich Heimleiterin werden, ein bisschen mehr verdienen und trotzdem noch Kost und Logis gratis haben. Trotzdem, sagte sie, werde sie bescheiden leben müssen. Für ihre Siebziger sparen, wie sie es nannte. Sie musste die verlorene Zeit ausgleichen.
    In mancherlei Hinsicht allerdings sah sie - zumindest in meinen Augen - fast von dem Tag an, an dem sie ihren neuen Job begonnen hatte, jünger aus als in den Monaten davor. Vielleicht wirkte sie einfach nur glücklicher, weil sie jetzt so viele Dinge, in denen sie gut war, tun konnte. Eines frühen Morgens im September war ein Studienanfänger in ihrem Heim, nur in eine Decke gewickelt, im fünften Stock aufs Fensterbrett gestiegen und hatte sich geweigert, wieder hereinzukommen. Die Polizei war verständigt worden und ein Krankenwagen gekommen. Aber es war meine Mutter, die sich aus dem Fenster lehnte, fast eine Stunde lang mit ihm sprach und ihn schließlich überredete, wieder ins Haus zu kommen. Ich weiß nicht, was sie ihm gesagt hat oder was er ihr gesagt hat. Sie war nicht befugt, mir Details oder seinen Namen zu nennen, nicht einmal nachdem seine Eltern gekommen waren, um ihn nach Hause - oder wohin auch immer - zu bringen, damit es ihm besserging.
    Vielleicht also war es nicht so, dass meine Mutter glücklicher war. Vielleicht wäre es zutreffender gewesen zu sagen, dass sie ihre Berufung gefunden zu haben schien - oder wenigstens eine zweite Chance.
    Nach dem Essen wurden die Geschenke verteilt. Elise schenkte unserer Mutter einen eisblauen Kaschmirschal. Sie hatte mir unter vier Augen anvertraut, dass sie hoffte, ihr Geschenk würde das »garstige Ding« ersetzen, womit sie den billigen, roten Schal meinte, von dem sie nicht wusste, dass ich ihn im letzten Winter für unsere Mutter gekauft hatte. Der neue Schal sah wirklich besser aus. Meine Mutter legte ihn um ihren Hals, freute sich über das weiche Material und rieb eine geknotete Franse an ihrer Wange.
    »Er ist wunderschön. Danke.« Gleich darauf schaute sie mich an und zwinkerte mir zu. »Den anderen werde ich wohl trotzdem behalten. Du weißt schon, fürs Haus und so.«
    Charlie hatte für jeden Gutscheinkarten, Entschuldigungen und das Versprechen, im nächsten Jahr ein bisschen früher mit den Weihnachtseinkäufen anzufangen. Ich schenkte meiner Mutter natürlich eine Mütze, die sie auch sofort aufsetzte und damit jegliche Eleganz, die Elises Schal ihr verliehen hatte, zunichtemachte. Meine Mutter schenkte Miles einen Zahnring in Form eines Traktors. Elise und Charlie bekamen Gutscheine für mehrere Abende Babysitting und dazu einen kleinen Kalender für das kommende Jahr, in dem stand, wann sie im Wohnheim arbeiten musste und wann nicht. Ich bekam den gleichen kleinen Kalender, einen Teller mit Weihnachtsplätzchen und eine handgroße, weiße Schachtel, auf der stand: »DAS SIND
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