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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Autoren: C. E. Lawrence
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Moos. Sie konnte das Rascheln der Waldbewohner in den Büschen hören und bemerkte, dass es nach Minze roch. Die wuchs wahrscheinlich irgendwo in der Nähe. Sie lehnte sich gegen den Stamm der Eiche, deren zerfurchte Rinde am Rücken drückte. Dennoch war es ein angenehmes Gefühl – Charlotte liebte Bäume, sie hatten für sie etwas Tröstliches. Ein paar Eichhörnchen sprangen oben in den Zweigen herum. Wie schön es doch sein musste, ein Eichhörnchen zu sein und so mühelos die Bäume zu erklimmen.
    Charlotte sah zu den Tieren hinauf. Dann schaute sie zu ihrem Entführer hinüber. Er hatte sich nicht hingesetzt, sondern war schwitzend stehen geblieben und beobachtete wachsam den Pfad. Offenbar hatte er Angst, dass man sie verfolgte. Seine Hände hielten den Wanderstock umklammert.
    »Wo bringen Sie mich hin?«, fragte sie.
    Seine Antwort war knapp und kalt. »Zum heiligen Wasser.« Die Stimme verriet keinerlei Emotion, aber Charlotte glaubte, kurz so etwas wie Verletzlichkeit in seinem Blick erkannt zu haben. Ich muss jetzt persönlicher werden, schoss es ihr durch den Kopf.
    »Warum, Eric?«, fragte sie sanft. »Warum bringst du mich den ganzen langen Weg hierher?«
    Er drehte sich weg. »Weil es mein heiliger Platz ist. Es kann nur am heiligsten aller Plätze getan werden. Wir müssen beide unser Schicksal erfüllen – dann wird unsere Verwandlung abgeschlossen sein.«
    »Was für eine Verwandlung? Wovon redest du, Eric?«
    Er sah sie noch immer nicht an. »Mein Name ist Caleb.«
    »Hat Martin dir das erzählt?«
    Eric wurde rot, und er packte den Stock fester. »Es ist mir egal, was Martin gesagt hat – er hat mich angelogen.«
    »Inwiefern denn, Eri–, Caleb? Wann hat er gelogen?«
    Er trat nach einem Kiesel, der hüpfend den Pfad hinunterrollte. »Immer.«
    »Zum Beispiel?«
    »Er hat mir gesagt, dass meine Mutter zurückkommt, dass sie in einem anderen Körper wiedergeboren wird.«
    Charlotte begriff nicht, was Eric damit meinte. Ihr Bruder sprach nie mit ihr über seine Patienten. Sie machte die Termine, führte die Leute ins Wartezimmer oder brachte ihnen gelegentlich einen Tee. Das war alles. Sie wusste nur wenig bis gar nichts über das Leben, die Hoffnungen und Enttäuschungen dieser Menschen – oder aus welchem Grund sie in Therapie waren.
    Und Eric war ein relativ neuer Patient – er war noch nicht ganz ein Jahr bei Martin in Behandlung. Charlotte hatte ihn im Wartezimmer gesehen, vielleicht ein oder zwei Mal mit ihm am Telefon gesprochen, mehr nicht. Sie wusste so gut wie gar nichts über ihn. Also musste sie einen Schuss ins Blaue wagen.
    »Sie fehlt dir sehr, nicht wahr?«, fragte sie.
    Erst wurde sein Gesichtsausdruck weicher, um sich gleich darauf zu verhärten. Erics Blick hatte plötzlich etwas Drohendes.
    »Sie war … eine Hure «, keuchte er.
    »Aber … du hast sie geliebt, nicht wahr?«, rief Charlotte verzweifelt. Es hatte sich merklich abgekühlt, Wind war aufgekommen, und eine Bö wirbelte die Blätter auf.
    »Geliebt?«, fragte er höhnisch. »Ich hasse sie. Ich hasse dich .«
    Ein dünnes, grausames Lächeln umspielte seine Lippen, und Charlotte wusste, dass sie verloren war.

KAPITEL 62
    »Herrgott«, stöhnte Detective Butts und wischte sich Regen und Schweiß von der Stirn. »Ich dachte immer, es gibt keine verdammten Berge in New Jersey.«
    Sie waren nun schon fast eine Stunde lang unterwegs. Der Regen hatte vorübergehend aufgehört, aber in der Ferne war unheilvolles Donnergrollen zu hören. Lee hatte Seitenstechen.
    »Wir müssen kurz vorm Gipfel sein«, sagte Diesel. »Ich bin ziemlich sicher, dass wir beinahe zwei Meilen gelaufen sind.«
    »Kommt hin«, stimmte Lee zu. »Es kann nicht mehr weit sein.«
    »Wir sollten besser bald dort ankommen, oder jemand steckt ernsthaft in Schwierigkeiten«, murmelte Butts. »Oh mein Gott!«, keuchte er plötzlich, ging zu Boden und hielt sich die Seite.
    »Was fehlt Ihnen?«, fragte Lee erschrocken und setzte sich neben den Detective.
    »Nichts … hab nur … Seitenstechen«, stöhnte Butts und rang nach Atem.
    »Können Sie aufstehen?«, wollte Lee besorgt wissen.
    »Ich … versuch es«, antwortete Butts, richtete sich auf und krümmte sich sofort wieder vor Schmerzen. »Tut mir leid … es hat keinen Zweck … geht ohne mich weiter. Ich hole euch ein.«
    Lee sah Diesel an, der eine Augenbraue hochgezogen hatte. »Wir müssen so schnell wie möglich zum Wasserfall«, drängte er.
    »In Ordnung. Wir gehen ohne Sie weiter,
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