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Wege im Sand

Wege im Sand

Titel: Wege im Sand
Autoren: Luanne Rice
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flüsterte sie, als sie seinen nackten Ringfinger sah und an Kevin dachte, der zu Hause mit einem Bier und einer Flasche Bourbon auf dem Sofa lag, zwischen den Fernsehprogrammen hin- und herwechselte, sich in krankhafter Verzweiflung suhlend.
    »Eine solche These bedarf einer Begründung«, sagte der Professor.
    »Mein Mann war der begabteste Kunststudent in unserer Klasse. Doch dann hörte er auf zu malen, angeblich, weil es ihm an Inspiration mangelte. Ich erklärte ihm, Selbstdisziplin sei wichtiger als Inspiration – im Alltag. Wenn man sich aufrafft und ins Atelier geht, fließen die Bilder von alleine aus dem Pinsel. So funktioniert das – das ist die Alchemie des Künstlerlebens, die Gabe, wissen Sie. Das Schwerste ist, sich an die Staffelei zu setzen.«
    »Hat er Ihren Rat beherzigt?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Jetzt malt er gar nicht mehr.« Sie fühlte sich überwältigt von der Einsamkeit ihrer Ehe mit einem Mann, der sich durch seinen Alkoholkonsum mehr und mehr von ihr entfernte.
    »Das tut mir Leid.«
    Stevie nickte.
    »Glauben Sie wirklich an das, was Sie sagen? Dass Disziplin wichtiger ist als Inspiration?«
    »Ja. Ich weiß es. Von meinem Vater …«
    »Und woher wusste es Ihr Vater?«
    Stevie schluckte. »Mein Vater war Professor – wie Sie. Dr. John Moore. Er war außerdem ein Dichter. Er hatte alles – einen akademischen Titel, Amt und Würden, und die Seele Irlands. Und dann … verließ uns meine Mutter, wie das Pinguin-Weibchen. Sie brach nach Frankreich auf, zu einer Malreise, die ihr mein Vater zum fünfunddreißigsten Geburtstag geschenkt hatte, und kam nie mehr zurück.«
    »Was passierte mit ihr?«
    »Sie kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.«
    »Das tut mir sehr Leid.« Er bot ihr erneut sein Taschentuch an, als er sah, dass sie es nun wirklich dringend benötigte.
    Sie putzte sich geräuschvoll die Nase.
    »Ein hübscher Ruf, unverkennbar. Er hat sich meinem Herzen eingeprägt«, sagte er.
    Lächelnd faltete sie das Leinentaschentuch und gab es ihm zurück.
    »Und was ist mit dem Teil Ihrer Geschichte, in dem es um Disziplin geht?«, fragte er, doch dann schüttelte er den Kopf. »Wie dumm von mir. Da unterbreche ich Ihre feinfühlige Erzählung, nur um Sie wieder auf Kurs zu bringen. Sehen Sie, was ich mit dem Fluch des linearen Denkens meine?«
    »Schon gut. Ich wollte nur sagen, dass mein Vater mich seitdem großgezogen hat. Nichts konnte ihn daran hindern. Weder sein Beruf noch seine Poesie. Nach ihrem Tod veröffentlichte er nichts mehr – vermutlich nahm ich zu viel Zeit in Anspruch. Er wurde bei der Beförderung zum Leiter der Abteilung übergangen – weil er mich ständig zu Reitstunden oder zum Zeichnen auf die Felder und Wiesen am Farmington River kutschieren musste.«
    »Klingt, als sei er ein großartiger Mann gewesen.«
    »Das war er. Und ein großartiger Vater.«
    »Machen Sie da einen Unterschied? Ist das nicht ein und dasselbe?«, fragte er mit begierigen Augen. »Bedingt das eine nicht das andere? Großartiger Mann, großartiger Vater?«
    »Ich glaube, das ist das Gleiche.«
    »Teufel auch, die Antwort hatte ich befürchtet. Ich war meinem Sohn der denkbar schlechteste Vater. Hätte ich auch nur zweiundsiebzig Minuten auf dem Packeis mit ihm ausgeharrt, ganz zu schweigen von zweiundsiebzig Tagen? Mitnichten.«
    »Ich bin sicher, er würde es Ihnen verzeihen.«
    »Mir verzeihen? Er betet mich an. Seit dem Tag, als ich mich von seiner Mutter getrennt habe, küsst William den Boden, auf dem ich gehe. Ist das etwa fair?«
    »Ihr Sohn liebt Sie eben. Das finde ich fair.«
    Der Professor lächelte. »Nett von Ihnen. Sehr, sehr nett. Kommen Sie – ich spendiere Ihnen einen Drink im Landfall, wo Sie mir etwas über die Feinheiten des nicht-geradlinigen Denkens beibringen können. Wie heißen Sie übrigens?«
    »Stevie Moore.«
    »Ich bin Linus Mars. Was ist, kommen Sie mit? Wie mir scheint, wissen Sie Dinge, die ich unbedingt erfahren muss.«
    »Über Ihren Sohn?«
    »Über mein Herz.«
    »Oh …«
    Sie dachte an Kevin, der in New York zurückgeblieben war, viereinhalb Stunden entfernt. Er würde keinen Bissen essen, bis sie nach Hause kam und ihm etwas vorsetzte oder ihn unter Androhung körperlicher Gewalt zwang, den Telefonhörer in die Hand zu nehmen und beim Chinesen etwas zu bestellen. Andererseits würde er wahrscheinlich nicht mehr ansprechbar sein, lange vor ihrer Rückkehr. Ihr eigenes Herz war in einer Ehe aufgerieben worden, die sie sich
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