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Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)

Titel: Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
Autoren: Egon Günther
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jugendfrisch, wenn sie an ihre unbeschwerte Kindheit im Allgäu zurückdenkt. Aus fernen Kindheitstagen erzählt sie Cornelius anrührende Geschichten von sonnigen Landpartien, fröhlichen Badeausflügen, mittelalterlichen Kostümen und dem bunten Treiben kindlicher Fahnenschwinger beim alljährlichen Tänzelfest in den alten Gassen ihrer Geburtsstadt, Geschichten, die für gewöhnlich mit einem verzückten Seufzer eingeleitet werden: »Früher in K.…« In ihre verklärten Erinnerungen stiehlt sich gelegentlich der unheimliche Schatten des Stadtgefängnisses, das sie des Öfteren aufgesucht hat, um die gleichaltrige Tochter des Direktors zum Spielen oder zum Beerenpflücken abzuholen. Eindringlich schildert sie dann dem Jungen, wie sie beim Anblick der Gefangenen, die im Geviert des Hofes ihre trostlosen Runden drehten, mit einem Schlag so tieftraurig geworden ist, dass weder der schulfreie Tag noch der selten azurblaue Himmel sie zu trösten vermochten.
    Durch die liebreizenden Landschaften ihrer Kindheit schlängelte sich eine funkenstiebende Lunte, an deren Ende mit dem Ausbruch des Weltkrieges eine Kette katastrophaler Explosionen stand, die alles Althergebrachte in seinen Grundfesten erschüttert hat. Zu früh hatte sie beide Eltern verloren und war als Waise zu entfernten Verwandten in die große Stadt gekommen, in der sie zeitlebens nie wirklich heimisch werden konnte.
    An jenem denkwürdigen Tag im November 1918, an dem der König von Bayern seinen Thron verlor und für einen kleinen Moment ein himmlischer Lichtschein auf München fiel, stand auch Lena als blutjunge Frau inmitten der schwarzgrauen Menschenmenge auf der Theresienwiese, die für den sofortigen Frieden und gegen den mörderischen Krieg protestierte. Karl, in der städtischen Verbannung ihr geliebter Jugendfreund und später ihr erster Mann, hatte das Gemetzel als Infanterist in den Schützengräben Frankreichs mitgemacht und überlebt, obwohl es ihn in all dem unsagbaren Irrsinn oft und oft gereizt hat, sein ohnehin allzeit gefährdetes Leben durch tollkühne Streiche noch mehr aufs Spiel zu setzen, indem er etwa nächtens auf eigene Faust die gegnerischen Linien überwand und mit einem erbeuteten roten Offiziersképi, das er als Beweis seines vollbrachten Coups einem schlafenden Feind vom Kopf stibitzt hatte, wieder heil zu seinen Kameraden in die Stellung zurückgekehrt ist. Nach der Niederschlagung der Bairischen Räterepublik musste er sich für einige Wochen versteckt halten, da man ihn bei den Standgerichten als Spartakisten denunziert hatte. Angeblich ist er in vorderster Front an den Kämpfen gegen die in die Münchner Innenstadt vorrückenden Weißen Freikorps beteiligt gewesen. Denunzianten hatten angegeben, ihn neben einem Maschinengewehrposten der Roten Armee am Hauptbahnhof gesehen zu haben. Als der weiße Blutrausch abgeklungen und die militärische Standgerichtsbarkeit wieder aufgehoben war, konnte Karl aus seiner Versenkung hervorkommen und sich mit einer hinreichend glaubwürdigen Ausrede mehr oder weniger ungeschoren aus der Affäre ziehen.
    Nach dem mit äußerster Gewalt erstickten Revolutionsversuch arbeitete der kurzzeitige Rotgardist als Automateneinsteller in einer Sendlinger Firma, die Präzisionsschrauben fertigte. Offenbar genoss er das Vertrauen der Belegschaft, denn sie wählte ihn ohne weiteres zu ihrem Betriebsrat. Im frostigen Februar des Jahres 1929 ist er, mittlerweile Vater einer fünfjährigen Tochter, in einem Bedürfnisraum des Betriebs an Abgasen erstickt. Man hatte die Toiletten mit kleinen Holzkohleöfen geheizt, da die Leitungen der Zentralheizung eingefroren waren. Lena erzählte später oft, dass eine Wahrsagerin den Tod ihres Mannes aus einem Satz Spielkarten und dem aktuellen Stand der Planeten herausgelesen habe. Karl hatte die befreundete alte Frau nur beiläufig nach dem Ausgang einer geplanten Reise befragt, die er als Schlachtenbummler, nunmehr in Friedenszeiten, auf seiner nagelneuen Zündapp, dem »Motorrad für Jedermann«, in den Elsass antreten wollte. Ob Lenas Mann die Prophezeiung des ihm bevorstehenden Unglücks aus dem Mund des Mediums erfuhr, oder ob ihm die bange Deutung erspart geblieben ist und ihm stattdessen blendende Zeiten geweissagt worden sind, das hat sich Lena nie entlocken lassen. Möglicherweise hatte ihn die Kartenleserin sogar in sibyllinischen Worten vor dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen gewarnt. Nur wissbegierige Narren und unbekümmerte Draufgänger werden
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