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Wasserwelten

Wasserwelten

Titel: Wasserwelten
Autoren: Siegfried Lenz
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und klappten beim Atmen ihre Kiemendeckel ab. Mehrmals forderte Hilke mich auf, ihr mit dem strömenden Wasser eines Priels die Beine abzuwaschen, über die sich muddrige Fäden zogen; sie stützte sich dabei auf meinen Rücken. Die Schneckenhäuser in ihrem Schlüpfer stießen gegeneinander, es klang wie eine Klapper. Ich setzte meinen Fuß auf winzige Erhebungen und ließ den Schlamm durch die Zehen quellen. Der rotblaue Ring auf Hilkes Schenkeln stammte aus Gummizug, er sah quaddlig aus, man mußte an einen Kranz von Insektenstichen denken. Der Wind warf ihr Haar hin und her, manchmal war ihr Gesicht ganz verdeckt.
    Deutschstunde, 1968
     
     
     
     
    In jedem Jahrhundert sieht eine Karte von Schleswig- Holsteins Westküste anders aus. Die großen Buchten, die Halbinseln haben ihre Umrisse verändert, Inseln wurden vom Festland losgerissen, wurden geteilt und überströmt von der See. Dafür sind neue Landstriche gewonnen worden, wo einst Meer und Watt mit salzigen Fluten ihre Herrschaft ausübten. Das ist wohl der auffallendste Unterschied zur fördenreichen Ostseeküste: das Wattenmeer, das sich ausgesprochen verkehrsfeindlich auswirkt und keine größeren Häfen zuläßt.
    Der Anschauungsunterricht über die Wirkungen von Ebbe und Flut, die Eigenarten des Watts und der Neulandgewinnung sind hier ebenso deutlich wie vor der Küste von Ostfriesland. Reist man im Westen Schleswig- Holsteins nordwärts, so zieht sich am Rande der Geest ein Dünenwall, hier Donn genannt, von Süd nach Nord, von Heide und Ginster bewachsen, und ist ein Aussichtsweg von wunderbarer Weite. Was davor liegt, ist gewissermaßen Neuland, dem Meere abgerungen in jahrhundertelanger Arbeit. Marschhöfe liegen auf ihrer Warft, beschattet von Silberpappeln und Eschen. Schräg stehen die Bäume vom ewigen Westwind. Aber umgeben sind sie von Feldern, die hinter den See- und Flußdeichen wohlgeschützt seit langem gute Ernten bringen. An vielen Stellen sieht man Deiche weit entfernt von dem heutigen Küstensaum die Marsch durchziehen, ein Zeichen dafür, wie die Landgewinnung vorgerückt ist.
    Aus der Luft sind die neuen Köge besonders gut zu erkennen, die grauen Schlickmassen, die sich hinter den Lahnungen fangen, wo der Queller schon Fuß gefaßt hat, diese merkwürdige Salzwasserpflanze, die in ihren vielen Armen Sickerstoffe, Sand und Lehm auffängt und damit die Verlandung einleitet; das erste Weideland vor dem Sommerdeich, wo man schon Schafe grasen läßt, hinter dem Deich Marschwiesen für Rinder und schließlich die üppigen Felder mit Korn und Kohl.
    Aber auch von ganz eindeutig umgekehrter Entwicklung weiß man. Zum Beispiel Büsum, das kleine Seebad, der Fischereihafen, lag einst am Nordende einer Insel. Sie wurde von Süden immer mehr von der See verschlungen, gleichzeitig wurde vom Festland her Land gewonnen, so daß Kirche und Ort schließlich am südlichsten Punkt der Halbinsel Norderdithmarschen einen neuen Geschichtsabschnitt erleben, also auf dem Festland.
    Wo die Möwen schreien ... , 1976
     
     
     
     
    Unmittelbar neben dem Pfad zog sich eine Flutlinie von Seetang, verdorrtem Pfeilgras und Geröll hin, und parallel zu ihr liefen andere, ältere Linien: jede große Flut hatte so ihre Markierung hinterlassen, ihren Erinnerungsstreifen, der von der winterlichen Kraft der See zeugte oder von ihrem winterlichen Grimm. Jede Flut hatte etwas andereserbeutet, eine hatte weißgewaschenes Wurzelwerk aufs Land geschleudert, eine andere Korkstücke und einen zerschlagenen Kaninchenstall, da lagen Tangknollen und Muscheln und zerrissene Netze und jodfarbene Gewächse, die wie groteske Schleppen aussahen, und meine Schwester und der Akkordeonspieler gingen an allem vorbei zur Halbinsel. Sie stiegen nicht hinauf zum Gasthaus »Wattblick«, sie gingen auf der Seeseite vorbei, Hand in Hand jetzt, von sprühender Gischt getroffen, mit brennenden Gesichtern. Draußen, wo die Halbinsel flach in die Nordsee stach, waren die schafwolligen Schaumkronen der Strandwellen zu sehen, die aus schwarzer Weite anliefen und sich im seichten Grund zerschlugen, wie ein Lauffeuer schäumten sie heran, bergauf und bergab, begleitet von einem unablässigen Summton.
    Die Halbinsel stand in der See wie ein scharfer Schiffsbug, sie stieg nur langsam an zu einem gefalteten Dünenbuckel, der baumlos war, mit hartem Strandhafer bedeckt. Dort nisteten die Möwen. Dort bauten sie ihre kümmerlichen Nester in jedem Frühjahr; zwischen der Hütte des Vogelwarts und
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