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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Autoren: Sanbine Czerny
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Hause, und hat an den nächsten Tagen wenigstens etwas zu essen dabei: eine trockene Semmel. Nichts zu trinken, kein Obst, nur ein trockenes Brötchen, das für die Weihnachtsfeier gekauft werden musste. Nein, ich unterrichte nicht in einem sozialen Brennpunkt, sondern in normalen Wohnorten außerhalb Münchens.
    Sicher, es gibt auch Eltern, die sich von den äußeren Rahmenbedingungen her kümmern könnten und es dennoch nicht tun.
Meist hat das aber emotionale Gründe, es fehlt die Kraft, die Muße, die Freude. Von der Gesellschaft werden diese Eltern oft vorschnell als desinteressiert und faul abgestempelt, ohne nach möglichen Ursachen zu fragen und diese zu berücksichtigen. Nicht selten leiden Kinder auch unter der viel zitierten Wohlstandsverwahrlosung. Die Eltern sind häufig beruflich unterwegs und die Kinder werden fremdbetreut. Sie haben Fernseher, Spielsachen, Kleidung, alles im Überfluss. Was fehlt, sind Beziehung und Kommunikation — und oft auch Bewegung. Andere wiederum werden schier erdrückt von der Zuneigung und der Kontrolle der Mutter, die den ganzen oder zumindest den halben Tag daheim ist. Wie Peter, dessen Eltern ihn angewiesen haben, sich auf gar keinen Fall neben Jussuf oder Franz zu setzen, weil diese ihn aufhalten und ablenken könnten. Da es doch so wichtig ist, gut in der Schule zu sein. Für Peter ist das nicht wirklich nachvollziehbar, er mag Jussuf, auch wenn der noch nicht lesen kann und jeden Tag dieselbe Kleidung trägt. Doch er wird sich an die Anweisung seiner Mutter erinnern und sich jedes Mal entsetzt wehren, wenn er neben einem „falschen” Kind sitzen soll. Oder wie Ursula, die sich rührend um Paul kümmert, obwohl er sehr aggressiv ist und ständig den Unterricht stört. In Ursula scheint er nach der Scheidung seiner Eltern endlich jemand gefunden haben, der ihn mag, so wie er ist. Doch Ursulas Mutter möchte das nicht: Paul habe einen schlechten Einfluss, meint sie, Ursula könne nicht mehr schlafen, hätte Angst. Bei Ursula ist davon nichts zu merken. Ganz im Gegenteil, sie spürt, wie wichtig sie für Paul ist und wie schön es ist, dass Paul sich ihr langsam öffnet und Vertrauen fasst. Kein Wunder, dass Paul wieder anfängt zu toben und zu stören, als sich Ursulas Mutter schließlich durchsetzt, den Kontakt unterbindet und Paul sich wieder von aller Welt alleingelassen fühlt.
    Nun, auf jeden Fall sitzt jetzt eine ganze Klasse völlig unterschiedlicher Kinder vor mir, und nein, Verschiedenartigkeit und Unterschiede sind für sie überhaupt kein Problem, zumindest noch nicht. Sie teilen ihr Pausenbrot, sie spielen gemeinsam, sie helfen einander. Sie finden sich gegenseitig in Ordnung, sehen,
dass jeder anders ist. Sie stellen Unterschiede fest, aber sie urteilen nicht darüber. Für sie gibt es das Wort „Ausländer“ gar nicht, das ist Peter, das ist Hassan, das sind Acelya und Markus. Und da ist Josele, der schon prima rechnen, aber noch nicht lesen kann, da ist Bertram, der immer so lustige Witze erzählt, und François, der alles über Dinosaurier weiß, aber noch sehr holprig spricht. Kinder haben noch diese wunderbare Gabe, jeden so anzunehmen, wie er ist. Das Einzige, was sie wirklich nicht mögen, ist, wenn jemand schlägt, beleidigend oder laut ist. Zeit, das Miteinander zu lernen, geben sie aber jedem. Und manchmal benötigen sie auch Hilfe dabei.
    Ich bemerke insgesamt auch keine großen Unterschiede in dem, was diese Kinder an sich ausmacht. Ich könnte nicht sagen, eines sei intelligenter oder leistungsfähiger als andere. Ich sehe nur, dass einige Kinder schon viel mehr Erfahrungen haben, schon viel mehr Schönes erleben durften, insgesamt auf viel mehr zurückgreifen können als andere. Aber lustige Ideen haben sie alle, jedes von diesen Kindern will lernen, jedes hat Freude daran, etwas zu tun und sich anzustrengen. Schon allein meinetwegen, schon allein, um bei mir eine wertschätzende Reaktion auszulösen, selbst wenn ihnen die Dinge, mit denen wir uns beschäftigen und die wir lernen, an sich noch völlig egal sind. Als Lehrer einer ersten Klasse wird man automatisch eine wichtige, prägende Bezugsperson für die Kinder — vielleicht gar die erste „fremde“ außerhalb der Familie. Manche Kinder brauchen ein paar Wochen, um sich einzugewöhnen, manche müssen erst einmal lernen, mit den vielen
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