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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Autoren: Sanbine Czerny
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wollten lernen, so entscheiden sich die frisch Eingeschulten heute in ihren freien Zeiten häufig fürs Malen und Spielen. Im Prinzip ist das okay, es ist unbestritten, wie kostbar und wichtig Malen und Spielen für die Entwicklung der Kinder sind — wenn da nicht ein Lehrplan zu erfüllen
wäre, für den eben nur eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht. Quasi von der ersten Minute an wird ständig etwas von den Kindern gefordert.
    Wie viel sinnvoller wäre es deshalb, Kinder erst dann einzuschulen, wenn sie als Menschen die nötige Reife erlangt haben, um einen Regelschultag durchzustehen, statt nur deshalb, weil sie an einem bestimmten Tag Geburtstag haben oder weil sie schon im Zahlenraum bis zehn rechnen, Mengen erkennen, ihren Namen schreiben, eventuell bereits lesen oder Schnürsenkel binden können. Die Art, in der kleine Kinder die Welt entdecken — unbewusst, durch ihr tägliches Erleben und in einer großen, häufig ungefilterten Vielfalt - entspricht nämlich nicht dem Lernen, wie wir es aus der Schule kennen. Sich auch längere Zeit konzentriert mit einer vorgegebenen Aufgabenstellung zu beschäftigen, einem Lehrer oder Mitschüler bewusst zuzuhören und auf diese Weise zu lernen, all das wird erst mit einer bestimmten Reife möglich. Ist nicht das die ursprüngliche Bedeutung von Schulreife?
    Das Schlimmste an der derzeitigen Einschulungssituation ist jedoch die innere Überzeugung, die viele Kinder dadurch schon früh entwickeln. Wie sehr man sich als Lehrer auch engagiert, die erste Erfahrung für Kinder ist zu häufig: Schule ist anstrengend. Lernen ist anstrengend, Hausaufgaben sind anstrengend. Ob das so sein muss? Immerhin wirken Erfahrungen und Überzeugungen nachhaltig. Wenn Eltern mich fragen, ob sie ihr Kind einschulen sollen, antworte ich daher: „Statt zu fragen: ‚Schafft mein Kind die Schule?’, fragen Sie sich lieber: , Wie schafft mein Kind die Schule? Welche Überzeugungen wird es gewinnen?′ Denn diese werden Ihr Kind sein ganzes Leben lang begleiten, unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ sind.”
    Die ersten Schulwochen nutze ich dazu, eine Klassengemeinschaft zu bilden, die den Kindern einen Ort der Geborgenheit und Sicherheit bietet. Wir lernen Arbeitstechniken kennen und führen Regeln ein, die für unser Zusammensein wichtig sind. Wir beschäftigen uns mit Buchstaben und Zahlen und greifen Themen aus der Lebenswelt der Kinder auf, sprechen also zum
Beispiel über verschiedene Obstsorten oder darüber, warum man in der Dunkelheit am besten helle und reflektierende Kleidung trägt. Vieles würden die Kinder im Laufe der Zeit mehr oder weniger nebenbei mitbekommen, einfach indem sie ihre Umwelt beobachten und erleben. Ich finde es wichtig, alle diese Inhalte zu nutzen, um Strukturen im Denken jedes Kindes anzulegen, Haltungen und Arbeitstechniken zu vermitteln, den Kindern zu helfen, das Lernen zu lernen, und auch bei einigen Kindern Erfahrungs- oder Wissenslücken zu schließen. Vieles, was in der ersten und zweiten Klasse unterrichtet wird, dient mir dazu, eine Saat zu legen, die erst später aufgehen wird. Lesen und Schreiben würden die Kinder meist auch allein lernen, wenn ihnen nicht die Lust daran genommen wird. Aber ob ein Kind einmal eine flüssige, ansprechende Schrift haben wird, hängt damit zusammen, wie es das Schreiben lernt. Eine Zahlvorstellung brauchen Kinder nicht zwingend, wenn sie nur bis zehn oder zwanzig rechnen, dafür zählen sie einfach mit den Fingern. Aber eine solche Vorstellung muss jetzt, am Anfang der Schulzeit, grundlegend entwickelt werden, damit das Kind später überhaupt eine Chance hat, auch mathematische Operationen wie das Bruchrechnen zu beherrschen. Oft kann man Ausblicke geben und Lust auf mehr machen — große Zahlen faszinieren Kinder, genauso wie Chemie und andere Naturwissenschaften —, auch wenn sie viele Inhalte jetzt noch gar nicht verstehen. Sie freuen sich auf alles, was es da noch zu entdecken gibt. Wir schreiben die ersten Geschichten, finden Zugänge zu schwierigeren Inhalten innerhalb der Grammatik und der Rechtschreibung, nehmen einen Schatz an Märchen und anderen Erzählungen mit, da doch in so vielen Familien nicht mehr vorgelesen wird. Man gibt Rüstzeug mit, das den Kindern später dienlich ist — oder zumindest dienlich sein sollte.
    Ja, es gibt große Unterschiede
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