Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht

Titel: Was wir nicht haben, brauchen Sie nicht
Autoren: Dieter Moor
Vom Netzwerk:
unser – und der kleine Schweizer in mir betont es noch einmal:
     in UNSER – Haus getragen wird. So sind wir jetzt dabei, genau das, was wir mit den Huftieren veranstaltet haben, nun auch
     mit den Menschen zu exekutieren. Die müssen raus, wir wollen rein! Da walten Urgesetze des Überlebens. Wie herrlich, ein Urviech
     zu sein!
    So schnell, wie es über uns hereingebrochen ist, so plötzlich löst sich das Gewitter auf. Als ob jemand in einem riesenhaften
     Filmstudio den Schalter von «Weltuntergang» auf «Picknick am Nachmittag» gelegt hätte. Die Luft hat sich kaum abgekühlt, sodass
     Sonja und ich uns, pitschenass wie wir sind, auf zwei hässliche, rosarot ausgebleichte Plastestühle aus dem Milhoff’schen
     Vermächtnis setzen und in Ruhe eine Zigarette rauchen.
    «Was für ein Start!», lächelt Sonja.
    «Ja, mit Blitz und Donner, Pauken und Trompeten. Wagner hätte seine Freude dran gehabt. Nur unser Walhall, teure Walküre,
     müssen wir wahrlich noch erobern.»
    Sonja lacht kurz auf, dann wird sie ernst. Sie wirkt nicht eben walkürenhaft. Sitzt auf dem Plastikstuhl wie ein Schulkind
     nach einer schwierigen Klausur, unsicher, ob es halbwegs gut gelaufen ist. Eines ihrer langen Beine zusammengefaltet, den
     Fuß versteckt unter ihrem Po. Das andere, schräg nach unten zur Seite gewinkelt, hält zaghaft Bodenkontakt, nur mit der Außenseite
     des nackten Fußes. Ihre Hände ruhen auf dem Schoß, die Handflächen nach oben gedreht, die schlanken Finger kraftlos, als wäre
     ihnen eine wertvolle Frucht entglitten.
    «Und, wie gefällt es dir, unser Walhall?» Sie versucht cool und wie nebenbei zu fragen, aber ihre Augen fixieren mich sehr
     genau, bereit, jede kleinste Botschaft, die meine Mimik, Körperhaltung |31| oder Stimme unbewusst aussendet, zu registrieren. Sonjas gefürchteter Sei-jetzt-aber-ehrlich-Blick. Oder besser gesagt: Durch-Blick.
     Ich habe mir fest vorgenommen, alles toll zu finden, Begeisterung zu zeigen, Champagner-Euphorie zu verbreiten. Aber inmitten
     des Milhoff’schen Durcheinanders, triefend nass auf diesen Stühlen vor diesem Haus, das uns zwar gehört, das wir dennoch nicht
     beziehen können, bringe ich die Kraft für so eine Showeinlage einfach nicht auf.
    «Na ja», versuche ich auszuweichen, «ich bin ja noch gar nicht richtig hier.»
    «Sag es!»
    «Ja, also im Moment   …»
    «Hmmmm?» Sie beugt sich vor, bringt ihre blauen Scheinwerfer exakt vor meinem Gesicht in Stellung und blickt mir tief in die
     Seele. Sie will es wirklich wissen. Jetzt.
    «Also, offen gesagt   …» – ich atme tief ein   –, «es ist mir sehr, sehr fremd. Noch», schiebe ich mildernd hinterher, als ich merke, wie in ihrem Blick etwas erlischt.
    Sie richtet sich im Stuhl auf, blickt über den Chaoshof. Hebt hilflos die Hände und lässt sie wieder auf ihren Schoß zurückfallen
     wie zwei tote Gegenstände. Eine Welt bricht für sie zusammen. Wir haben alles, alles falsch gemacht. Sie senkt den Kopf, ihre
     dunklen Haare fallen vor ihr Gesicht, ein Vorhang nach beendeter Vorstellung.
    «Wir können ja auch gleich wieder verkaufen.» Sie sagt das leise. Ohne Vorwurf, ohne Bitterkeit. Einfach nur als Feststellung.
     Setzt sich halb auf, blickt ins Leere, in das Loch, in das sie gerade hineinfällt.
    «Mein Schatz», versuche ich zu erklären, «fremd ist doch nicht schlimm. Ich bin ein neugieriger Mensch. Ich habe nichts gegen
     das Fremde. Es macht das Leben interessant. Ich bin bereit, es kennenzulernen. |32| Es zu erobern, es mir vertraut zu machen. Wir sind nun mal in die Fremde gegangen. In voller Absicht, freiwillig und im Vollbesitz
     all unserer Sinne. So, und jetzt macht die Fremde ebendas, was sie machen muss: fremd sein! Na und? Dann werden wir uns das
     Fremde eben zu eigen machen. Zu
unserem
Ureigenen. Jeden Tag, jede Woche, jeden Monat ein wenig mehr, bis wir sagen werden
bei uns
und dann diesen Hof und dieses Dorf damit meinen. Unseren Hof. Unser Dorf.»
    Eigentlich habe ich diese kleine Ansprache begonnen im Versuch, mein tapferes Weib zu trösten. Aber während ich spreche, merke
     ich: Das ist nicht Trost für Sonja, das ist das Rezept für mich! Das ist der Weg, den es zu gehen gilt. Und er wird uns zu
     unserem Zuhause in dieser Fremde führen. Er wird nicht als Trampelpfad enden und dann aufhören, ein Weg zu sein. Wir werden
     nicht zurücksetzen müssen. Plötzlich habe ich Gewissheit: Wir werden es schaffen, verdammt nochmal, wir werden in und mit
     diesem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher