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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt
Autoren: David Baddiel
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all die Ausdrücke so abgestanden waren — es überstieg seine Vorstellungskraft, wie jemand davon angetörnt sein konnte, durch Überbenutzung waren sie völlig entschärft. Ein ähnliches Gefühl hatte er jetzt. »Wie... lange?«
    Es klang wie eine dumme Frage, fand er.
    Sie schmiegte ihr Gesicht an die Saiten, fühlte, wie sie ihr leicht in die Wangen schnitten: Mein Kopf ist wie ein Ei, dachte sie, in einem Scheibenschneider.
    »Sie wissen es nicht. Ich muß wieder hin und noch andere Untersuchungen machen lassen. Mein Neurologe war sehr optimistisch, aber das sind Ärzte ja immer, oder nicht? Das gehört zu ihrer Berufseinstellung.«
    »Und du hast es Joe immer noch nicht gesagt?«
    Emma schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht über mich gebracht. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen. Und ich sah auch keinen Sinn darin — solange ich nicht Bescheid wußte.«
    »Du konntest den Gedanken nicht ertragen — woran? An sein Mitgefühl? Oder an seine Verzweiflung?«
    Emma starrte Vic an, sein Gesicht jenseits der Saiten sah wie hinter Gittern aus. »Spielt das eine Rolle?« Sie spürte, wie wieder die Tränen hochkamen, eher vom Magen her als aus den Augen. Warum war er so? Und ausgerechnet jetzt...
    »Nein, nein«, sagte er, merkte selbst, daß sein Ton ziemlich harsch gewesen war. »Wahrscheinlich nicht.« Er zögerte, rückte seine Stimme zurecht und zog sich die weichsten Samthandschuhe an. »Emma...« Sie hatte den Blick nicht von ihm abgewandt. »Was ist das?« sagte er und nahm einen braunen, aufgerissenen Umschlag vom Boden auf.
    Sie schielte darauf, und wie ein bei einer Missetat ertapptes Kind gab sie eine Antwort, von der sie genau wußte, daß es darum nicht ging. »Ein Brief vom Krankenhaus. Der letzte, den ich bekam. Wegen des Termins heute.«
    Wieder zögerte er, überlegte, wie er die Frage stellen sollte, ohne daß es so klang, als schimpfe er mit ihr.
    »Aber Tess’ Name steht darauf.«
    Emma wollte schon sagen: »Ach wirklich? Wie komisch!« Aber dann siegte die Erwachsene in ihr. Wenn man älter wird, ist kindlich sein nicht so leicht, und wenn die Zeit zwischen dem Jetzt und dem Tod plötzlich drastisch schrumpft, ist man, ohne wirklich älter geworden zu sein, sehr gealtert.
    »Ja. Ich habe vergessen, ihn weggzuwerfen.«
    Er legte den Umschlag wieder hin. »Ich verstehe nicht.«
    Sie schloß die Augen und wischte sich mit der Hand übers Gesicht, als sei es naß. Sie wußte, daß sie die Sache erklären sollte, hatte aber das Gefühl, daß es nicht unbedingt gerade jetzt sein müßte.
    »Als ich zu meinem ersten Termin im Royal Brompton ging, hatte die Sprechstundenhilfe in der Onkologie es geschafft, meine Unterlagen zu verschlampen«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Sie konnte weder den Einweisungsbrief meines Hausarztes finden noch sonst irgendwas. Ich fühlte mich wirklich beschissen — so eine wichtige Sache, und die bringen alles durcheinander! Jedenfalls bekam ich trotzdem meinen Termin, mußte aber dafür ein Formular ausfüllen, was ich ordentlich tat. Wirklich. Bis auf meinen Namen und meine Adresse...« Sie verstummte.
    »Da hast du Tess’ Namen und diese Adresse hier hingeschrieben.«
    »Ja.« Dies trotzig. Sie sah ihn an. »Mein Gott, Vic, guck doch nicht so entsetzt. Ich wollte nicht, daß Joe was von den Untersuchungen mitbekommt. Also konnte ich mir die Krankenhausbriefe nicht nach Hause schicken lassen. Und dann gefiel mir die Vorstellung nicht, daß mein Name auf der Post für hier steht, wo Francis und alle möglichen Leute es mitbekommen.«
    Vic sah sie mit saurem Gesicht an. »Und das ist alles?«
    Sie schob die Harfe fort; ihr hölzerner Untersatz quietschte über das Linoleum. »Ja!« Dann sprang sie auf und stellte sich vor ihn. »Nein. Ich weiß es nicht. Was willst du hören? Na gut! Ich hab es getan, weil ich nicht wollte, daß es mir passiert, verstehst du? Ich habe es projiziert.« Und dann zitierte sie mit sarkastischer Singsangstimme: »Habe meinen Schmerz auf jemand anderen projiziert.«
    Er wollte sie nicht ansehen. »Aber warum Tess?«
    »Weil ich wollte, daß sie stirbt!« schrie Emma, all ihre Wut über das, was ihr geschah, fand jetzt ein Ventil. »Ich wollte verdammt noch mal, daß sie Krebs hat! Ich wollte, daß es lieber der Freundin meines Liebhabers passiert als mir! Jetzt siehst du, wie schlecht ich bin! Zufrieden?« Sie drehte sich um, schlang die Arme um sich, weil er es nicht tat. Das schwache durchs Fenster fallende Licht umrahmte ihr
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