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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt
Autoren: David Baddiel
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»Danke«, sagte er kalt. »Eine Sache ist mir allerdings noch unklar. Und die würde ich gern wissen.«
    Vic heftete die Augen auf den Boden. Seinen eigenen Informationsvorteil, dachte er, hätte er lieber nicht.
    »Mir ist immer noch nicht ganz klar, ob meine Frau wirklich Selbstmord begangen hat oder nicht.«
    »Und das mußt du unbedingt wissen. Wozu, Joe? Für deinen eigenen Seelenfrieden, nicht wahr?«
    Ein winziges Flackern war in Joes blauen Augen zu sehen, wie ein Zusammenzucken vor der Aggression, so als erlitte seine hart erarbeitete Gelassenheit einen Rückschlag. Seine rechte Hand fuhr nach oben, so als fühlte sie sich zu seinem Ohrläppchen getrieben, aber dann fiel sie einfach zur Faust geballt auf die Tischplatte herab.
    »Ja. Wahrscheinlich. Zumindest würde ich gern eines Tages, an irgendeinem Punkt in der Zukunft, einen Blumenstand am Straßenrand sehen können und mich nicht zuallererst fragen, ehe ich meinen Irrtum merke, wer dort tödlich verunglückt ist.«
    Er sagte es mit jener Resignation, die am anderen Ufer eines Ozeans von Schmerzen liegt. Wer einmal dorthin gelangt ist, weiß, daß die leidenschaftlichen Reaktionen — Tränen, Verzweiflung, Selbstmordgedanken — mit der Zeit vergehen und an ihre Stelle das schlichte Sich-damit-Abfinden tritt, daß man sich für alle Zeiten von der Grundlinie von Traurigkeit aus durchs Leben bewegt. Zum ersten Mal zeigte Joe einen Hauch von Verletzlichkeit, und Vic hätte am liebsten geweint.
    Beide schwiegen, aber ihr Schweigen war nicht spannungsgeladen. Dafür war zu viel zwischen ihnen passiert. Spannung ist sozusagen bedeutungsschwanger, birst vor unausgesprochenen Dingen. Aber was hätte es jetzt noch geben sollen, das unaussprechbar war?
    »Wenn ich wüßte, ob der Tod meiner Frau ein Unfall war, würde mir das vielleicht dabei helfen«, sagte Joe schließlich. »Und es muß Dinge geben, die du weißt — im Gegensatz zu mir. Ob du zum Beispiel...«, er hustete, »...mit meiner Frau zusammen warst, kurz bevor sie starb?«
    Vic sah auf. Er überlegte, ob er Joe die Antwort ersparen sollte. Aber was hatte Joe ihm erspart?

EMMA

    E mma fuhr von der Harley Street nach Herne Hill und merkte gar nicht, in welch großem Bogen die Strecke um halb London führte, zumindest nahm sie es nicht als Entfernung wahr, nur als Zeit, Londonzeit, die an diesem späten Dienstag nachmittag aus einer ununterbrochenen Serie von Staus bestand. Es war einer jener Tage, den sich London aufs Geratewohl für eine Rushhour-Show herausgepickt hatte, um das Gefühl, dergleichen sei nur für Freitagabend oder Montagmorgen reserviert, gründlich zu erschüttern. Und so stand Emma vor Ampeln, wo das Grün nur für einen einzigen Autovorstoß aufleuchtete, ehe es sich übers Gelb auf das ewige Rot zurückschaltete; inmitten von Dschungeln orangener Absperrhüte entlang dermaßen ausgebaggerter Strecken im Süden, daß das Schild Strassenarbeiten — vorübergehend stockender verkehr wie ein grausamer Witz erschien, weil auf diesen Straßen nie was laufen würde; sie tuckerte im Schneckentempo hinter anderen Fahrern her, die die Straße entlangschlichen und nach Hausnummern guckten. Und die ganze Zeit hörte sie den lähmend munteren Verkehrsreporterstimmen zu, die die üblichen Engpässe herunterrasselten, den Südkreisel, den Tunnel, die verstopften Umgehungsstraßen und Stadtautobahnen, und einen Fluchtpunkt nach dem anderen dicht machten, bis Emma schreien wollte: »Ist denn alles versperrt? Gibt es überhaupt keinen Ausweg mehr?«
    Sie weinte, aber sie weinte über den Verkehr, jedenfalls sagte sie sich das: Sie weinte, weil sie nicht hinkam, wo sie sein wollte. Sie kämpfte mit aller Macht dagegen an, ihren Frust noch zu vergrößern und zu denken, wie unfair es war, daß ausgerechnet heute, ausgerechnet jetzt, der Verkehr so entsetzlich war. Das war eine Marotte ihrer Mutter gewesen. Wenn Emma als Kind etwas anstellte, dann hatte sie die Sache immer dadurch aufgebauscht, daß sie noch einen anderen, bis dahin unbekannten — und wie Emma heute vermutete, erfundenen — Vorfall mit ins Spiel brachte, der am selben Tag passiert war. Und ausgerechnet da, hatte sie immer gesagt. Aber es war schwer, nicht in Selbstmitleid zu vergehen und zu fragen: »Warum kann es nicht dieses eine Mal keine Staus geben?« Es war schwer, sich so langsam durch Londons gnadenloses Dickicht zu kämpfen.
    Wenn Leute mit Neuigkeiten konfrontiert werden, wie Emma sie gerade von Professor Dewar
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