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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt
Autoren: David Baddiel
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einer kleinen Falle, hatte er vorhin, als er wieder zu sich kam, halb ironisch zu sich selbst gesagt; jetzt dachte er es wieder, aber nicht mehr ironisch, und sie schnappte von allen Seiten zu.
    »Wie lange habe ich es schon?«
    »Unmöglich zu sagen. Wie du wahrscheinlich weißt, ist die Inkubationszeit sehr lang. Der Virus kann jahrelang ruhen. Sicher ist bloß, daß es kürzlich zu einem beträchtlichen Virulenzschub gekommen ist, was die besagten Auswirkungen auf deinen Heuschnupfen hatte.« Joe guckte wieder durch die Linse, legte sein Auge aber nicht direkt auf den Tubus. »Die Anzahl deiner T-Zellen ist schon erheblich geringer, als sie sein sollte. Und sie sind es, die die Histamine durch den Körper transportieren.«
    Hör mit dem Scheißheuschnupfen auf, dachte Vic; Hör auf, so rumzureden, als sollte ich froh darüber sein — wie, hey, ich hab eine tödliche Krankheit, aber das macht nichts, denn sie hat den Nebeneffekt, daß ich nicht mehr dauernd schniefen muß, wenn ich durch die Felder laufe. Aber er hatte nicht die Energie, aggressiv zu werden. Statt dessen sagte er, so als spräche er zu seinem Arzt: »Wie lange dauert es, bis Aids richtig ausbricht?« Vor seinem geistigen Auge sah er den Wandteppich seiner sexuellen Geschichte, aber sie war lang und verwickelt, ein wahrer Teppich von Bayeux; in den Pathology-Jahren hatte es Frauengeschichten gegeben, an die er sich nicht mal erinnern konnte. Und in dieser Zeit hatte er sich auch ab und zu Heroin gespritzt, nicht genug, um süchtig zu werden, obwohl er manchmal damit kokettiert hatte — er erinnerte sich, wie er mit dem Gedanken spielte, sich freiwillig systematisch süchtig zu machen, wegen der herrlichen Erleichterung, die der Schuß einem dann verschaffte.
    »Auch das ist schwer zu sagen, zumal ich nicht weiß, wann du dich infiziert hast. Es ist möglich, daß es noch lange Zeit nicht ausbricht, vielleicht jahrelang nicht.« Joe legte sich den Finger an die Lippen. »Es ist sogar denkbar, daß es nie voll zum Ausbruch kommt. Obwohl, wenn ich mir das da angucke, dann sieht es so aus, als wärst du auf dem besten Weg dahin. Aber es gibt Leute, die ihr ganzes Leben lang...«, und hier machte er eine Pause, um dem Wort Gewicht zu verleihen, »...Überträger bleiben.«
    Vic senkte den Blick. Er hörte Joe schon nicht mehr richtig zu. Er dachte daran, wie sehr er das Leben geliebt hatte, oder zumindest die Erinnerung an sein Leben vor Emmas Tod. Bis zum Exzeß hatte er jede Erfahrung ausgeschöpft, so daß er, wenn sein Lebenslicht ausgeknipst würde, sagen konnte, er hätte auf allen Kanälen geguckt — Satellit, Kabel, o ja: Er hatte einen prima 94-Programme-Fernseh-abend gehabt. Aber jetzt schien das alles nicht mehr greifbar zu sein, nichts, woran er sich festhalten oder womit er es verklären konnte, wie: Egal, jedenfalls habe ich die Puppen tanzen lassen. Er merkte, daß diese Freuden einfach durch ihn hindurchgeflossen waren, nur so lange anhielten wie der Moment selbst und dann wie Zuckerwatte auf der Zunge zerronnen waren. Aber all diese Gedanken waren nur quälend; daß er das Leben so intensiv genossen hatte, war ihm kein Trost, sondern ließ ihn noch schärfer empfinden, was ihm entgehen würde. Die Puppen trampelten ihm jetzt auf dem Rücken herum.
    »Im Prinzip variiert die Geschwindigkeit, mit der sich HIV in Aids verwandelt, von Individuum zu Individuum enorm«, hörte er Joe jetzt sagen. »Ich habe Fälle erlebt, wo es nur drei oder vier Monate dauerte.« Er hielt inne, und als Vic zu ihm aufblickte, merkte er, daß Joe darauf gewartet hatte. »Ich weiß nicht, wie lange eure Affäre ging — sechs Monate? Ein Jahr?« Vic antwortete nicht: Er wollte nicht, hatte aber auch das Gefühl, er müsse nicht — Joes Frage war eher rhetorisch gewesen. Joe schloß einen Moment die Augen, so als wolle er Vics Schweigen übergehen. »Jedenfalls ist es sehr ungewöhnlich, daß meine Frau so schnell Aids bekommen hat. Nicht, daß es nicht auch andere solche Fälle gäbe, aber höchst selten. Und wenn du der Überträger bist ...«, Joe, der bei den letzten Worten den Blick gesenkt hatte, guckte wieder hoch und sah Vic mit Augen wie blaue Gasflammen an, »ist das HIV bei dir sehr virulent.«
    »Nun«, sagte Vic bitter, dem Joes melodramatische Aufbereitung des Ganzen, sein jakobinischer Unterton, jetzt reichte, »Gratuliere!«
    »Wozu?«
    »Daß du alles so schlau ausgetüftelt hast.«
    Joe hustete. Er legte sich nicht die Hand vor den Mund.
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