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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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hat. Die Korridore liegen im grauen Neonlicht da. Es riecht nachReinigungsmitteln, der übliche unpersönliche Geruch von öffentlichen Gebäuden. Da im Moment unterrichtet wird, ist es still auf den Gängen. Er steht nur da. Es ist sonderbar mit der Vergangenheit: Sie erhält ihre Macht nur, wenn man sie kennt – wenn man sie nicht kennt, ist sie nichts. Das Einzige, was er empfindet, ist das deutliche Gefühl, nicht in dieses Haus zu gehören. Er gehört nicht in die Gegenwart dieses Gebäudes und auch nicht in seine Vergangenheit.
    Die Option, mit der Firma an den ursprünglichen Firmensitz zurückzukehren, hat sein Großvater erst zu Beginn der achtziger Jahre endgültig aufgegeben. Damals hatte er sich schon aus dem operativen Geschäft zurückgezogen, aber als Patriarch hatte er immer noch eine Menge Einfluss. Doch schließlich hat er den Glauben daran verloren, das Ende der Teilung Berlins und den ökonomischen Wiederaufstieg der Stadt noch zu erleben. Er verkaufte das Verwaltungsgebäude an West-Berlin.
    Er hat sich schon seit langem vorgenommen, das ehemalige Verwaltungsgebäude einmal zu besuchen, aber jetzt, da er sich umsieht, weiß er eigentlich nicht, was er hier soll. Er ist hergekommen, wie man das Grab von Angehörigen besucht. Man denkt, man sollte es tun, ohne zu wissen, wem damit eigentlich gedient ist.
    Solange der Neubau des Bundeskanzleramts in der Nähe des Reichstags noch nicht fertig ist, wird das ehemalige Staatsratsgebäude der DDR als Berliner Dienstsitz des Bundeskanzlers genutzt. Es liegt an einem leeren Asphaltplatz, auf dem einst das Berliner Stadtschloss der Hohenzollern stand.Das Schloss wurde 1950 auf Anordnung der Führung der DDR gesprengt. Die sozialistischen Machthaber betrachteten es als Symbol einer absolutistischen Gesellschaftsordnung und des preußischen Militarismus. Offenbar glaubten sie daran, durch die Sprengung eines Gebäudes die Welt verbessern zu können. Er glaubt das nicht. Einen zehn Meter breiten Teil aus der Schlossfassade hat man bei der Sprengung verschont, weil auf dem Balkon des Portals Karl Liebknecht im November 1918 die sozialistische Republik ausgerufen hat. Das Portal mit dem Balkon hat man in das Staatsratsgebäude integriert.
    Vor diesem Portal steigt er aus dem Taxi. Im Sicherheitsbereich des Foyers überprüft man seine Personalien. Er legt den Inhalt seiner Taschen in eine Schale zum Durchleuchten. Dann geht er durch das Geistertor des Metalldetektors, hinter dem die Welt exakt die gleiche und doch eine andere ist, eine gesicherte und gefahrlose – vorausgesetzt, das System funktioniert.
    Ein Sicherheitsbeamter führt ihn in den ersten Stock in einen großen Raum mit dunkelblauem Teppichboden und einer breiten Fensterfront. Rechts bilden vier Tische ein Podium, wie man es von Pressekonferenzen kennt. Schilder informieren die Anwesenden, dass vor den Mikrofonen Bundeskanzler Schröder und Graf Lambsdorff, Schröders Sonderbeauftragter für die Entschädigung von NS-Zwangs-und Sklavenarbeitern, Daimler-Benz-Vorstandsmitglied Manfred Gentz für die deutsche Wirtschaft und der von Bill Clinton eingesetzte US-Unterhändler Stuart Eizenstat Platz nehmen werden.
    Obwohl das Ende des Zweiten Weltkriegs über ein halbes Jahrhundert zurückliegt, ist die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter des nationalsozialistischen Regimes eine offene außenpolitische Frage. Eine Reihe von deutschen Großunternehmen ist in den USA von ehemaligen NS-Zwangsarbeitern – niemand weiß, wie viele von ihnen noch am Leben sind – auf Schadenersatz verklagt worden. Tatsächlich sind mehr oder weniger alle deutschen Großunternehmen im zurückliegenden Jahr in diesem Zusammenhang verklagt worden: Volkswagen, Siemens, Allianz, Daimler-Benz, Thyssen-Krupp, Henkel, die Deutsche Bank, die Lufthansa.
    Das Thema ist juristisch komplex. Seit dem Ersten Weltkrieg gelten Zwangsarbeit und Deportation als völkerrechtswidrig und begründen reparationsrechtliche Ansprüche. Eine reparationsrechtliche Schlussregelung sollte Gegenstand eines Friedensvertrags sein, den es für den Zweiten Weltkrieg bis heute aber nicht gibt. Völkerrechtlich hat sich inzwischen die Position durchgesetzt, dass der 1990 abgeschlossene Zwei-plus-Vier-Vertrag zur Wiedervereinigung Deutschlands eine friedensvertragliche Bedeutung hat, in dem aber keine reparationsrechtlichen Ansprüche verhandelt worden sind. Sie standen nicht mehr auf der weltpolitischen Tagesordnung, was letztlich bedeutet: Mit
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