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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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offensichtlich spricht Kurt das aus, was viele der anwesenden Vertreter der deutschen Industrie denken. Niemand protestiert.
    »Nein, es ist keine Erpressung«, sagt er.
    Alle Gesichter wenden sich ihm zu. Auch der Bundeskanzler wendet sich ihm zu, mit einem überraschten, aber wohlwollenden Ausdruck in den Augen. Offenbar ist er froh darüber, dass ihm jemand aus dem Plenum beispringt, so dass er die ganze Überzeugungsarbeit nicht selbst leisten muss.
    »Sie halten die Forderungen für berechtigt, Herr …?«
    »Roland Ziegler«, stellt er sich heute Morgen zum zweiten Mal förmlich vor – zuerst Piet und nun Gerhard Schröder. Die beiden dürften ungefähr im gleichen Alter sein. »Ich spreche für den Vorstand der Ziegler Group«, fährt er fort und wendet sich an Kurt Weyse. »Kurt, ich kann durchaus eine Form von Erpressung erkennen. Aber es sind nicht wir, die erpresst werden.«
    »Ach nein?«, sagt Kurt und setzt sich.
    »Nein, nicht wir werden von den Zwangsarbeitern erpresst, sondern wir erpressen die Zwangsarbeiter.«
    »Wie bitte?« Kurt ist überrascht und wohl auch empört.
    »Du hast es gehört: Die SS hat den Wert eines Menschenlebens berechnet, und jetzt tun wir es. Es geht um Geld, damals wie heute. Wir berechnen, welchen Betrag man für jeden noch lebenden Zwangsarbeiter aufbringen muss und wie viel dabei in der Summe herauskommt. Sie, Herr Bundeskanzler, bieten zur Zeit acht Milliarden, Sie, Herr Eizenstat, wollen, soweit mir bekannt ist, zehn. Der Wert der Toten wird von uns berechnet, um die noch Lebenden für ihre Leiden zu entschädigen. Ist es ein Unterschied, dass die Rechnung aus Empörung und dem Willen zur Wiedergutmachung aufgemacht wird und nicht aus Kaltblütigkeit und Menschenverachtung wie bei der SS? So muss man es wohl sehen.«
    »Worauf wollen Sie hinaus?«, sagt Schröder. Er ist misstrauisch geworden, sogar wachsam.
    »Ich will auf Folgendes hinaus: Wir machen uns nicht schuldig, aber wir haben eine klare Forderung gegenüber den Klägern. Wenn wir zahlen, dann muss hinterher Ruhe herrschen. Wir wollen unsere dunkle Vergangenheit ein für alle Mal begraben. Wir wollen das Buch der nationalsozialistischen Geschichte schließen. Das letzte Kapitel, wie Sie, Herr Bundeskanzler, sagen, soll jetzt geschrieben werden, damit wir das Buch zuschlagen und ins Regal stellen können. Danach soll niemand mehr daran rühren, weder die Täter noch die Opfer. Das ist es, was wir verlangen, und darin liegt die eigentliche Erpressung: Wir sagen zu den Opfern, ihr bekommt das Geld nur, wenn ihr ab jetzt für immer schweigt. Und wenn ihr dazu nicht bereit seit, dann bekommt ihrkeinen Pfennig. Das ist der Punkt. Wir sitzen am längeren Hebel. Wir haben das Geld, die Überlebenden haben nichts. Wir sollten zahlen. Wir müssen zahlen.«
    Während er redet, kehrt die Übelkeit zurück. Er spürt sie aufsteigen wie eine Welle, der er nicht entkommen kann und die ihn mit sich reißen wird. Ohne eine Entgegnung abzuwarten, verlässt er seinen Platz und wendet sich zur Tür. Zum Glück braucht er, da er auf der Türseite sitzt, nicht quer durch den Saal zu gehen. Er spürt die fragenden, verärgerten, abweisenden Blicke, die ihm folgen. Aber er hat keine Wahl. Er verlässt den Saal und wendet sich, ohne den auf dem Gang postierten Sicherheitsbeamten zu beachten, zum WC, dessen Eingang er vor der Konferenz im Vorbeigehen gesehen hat. Er schließt sich in eine der Kabinen ein, beugt sich über die Toilettenschüssel und übergibt sich. Er erbricht das Frühstück, und als sein Magen leer ist, erbricht er grünliche Gallenflüssigkeit.
    Er riecht die saure Ausdünstung des Erbrochenen in seinem Mund und hört seinen schweren Atem, akustisch gespiegelt von den kühlen weißen Kacheln. Sein Bauch und sein Rachen schmerzen. Er rührt sich nicht. Er hofft, dass sich sein Zustand nach dem Erbrechen bessert. Dass sich sein Magen beruhigt und alles vorbei ist. Aber das tritt nicht ein.

DREI
    DAS HITLER-PORTRAIT auf der aktuellen Spiegel -Ausgabe hat ihn an eine Sammlung von Gesetzesblättern der nationalsozialistischen Reichsregierung erinnert, die er sich einmal während seines Jurastudiums in der Universitätsbibliothek hat kommen lassen. Unter den losen einzelnen Seiten befand sich unter anderem das Reichsgesetzblatt Nr. 86 vom 25.  Juli 1933 mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses . Der Text auf dem vergilbten Papier war in Frakturlettern gesetzt. In Paragraph eins hieß es: »Wer erbkrank ist,
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