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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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tonlos, sondern entlang einer Melodie, die auch die Melodie in seinem Kopf ist. Raindrops on roses, whiskers on kittens …
    Ihre Stimme gleitet präzise durch die Harmonien. Im dunklen Timbre ihres Gesangs schwingt etwas Geheimnisvolles mit, als seien die Töne spontane Verdichtung ihrer Empfindungen. Sie singt auch den zweiten Vers des Songs,doch dann nimmt er die Hände von den Tasten, als habe er kein Recht gehabt zu spielen. Sie lehnt im Türrahmen und sieht ihn neugierig und fragend an. Offenbar ist es ihm mit der Musik gelungen, seinem Anzug- und Aktentaschenimage eine neue und unerwartete Facette hinzuzufügen.
    Obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen nicht erheblich ist, gehören sie offensichtlich unterschiedlichen Welten an. Und auch wenn er allein dadurch, dass er My Favorite Things auf dem Klavier spielen kann, noch kaum zu einem Teil ihrer FIGHT- und LOVE-Kultur wird, haben sie jetzt eine Gemeinsamkeit.
    Sie kommen nicht dazu, über ihr kurzes spontanes Duett zu reden, weil die Wohnungstür geöffnet wird. Sie hebt überrascht ihre Augenbrauen. Er hat schon angenommen, dass sie nicht allein hier wohnt, das ist mehr oder weniger offensichtlich. Und obwohl es natürlich auch eine Frau in ihrem Alter sein könnte, die soeben die Wohnung betritt, sagt ihm sein Gefühl, dass es sich um einen Mann handelt – ihren Freund, mit dem sie zusammenlebt.
    Er muss den Kopf ein wenig zur Seite neigen, um am aufgeklappten Korpusdeckel des Konzertflügels vorbei in den Wohnungsflur sehen zu können. Dort stellt sich heraus, dass er mit seiner Annahme im Prinzip richtig liegt. Aber das, was er zu sehen bekommt, birgt dennoch eine Überraschung: Der Mann, der neben ihr auftaucht, ist Mitte bis Ende fünfzig, eher sogar Anfang sechzig. Er trägt eine verwaschene, aber wohl doch sehr teure Jeans, ein hellblaues Pilotenhemd und darüber eine Blouson-Jacke aus weichem fuchsfarbenem Wildleder.
    Er küsst sie flüchtig und gewohnheitsmäßig auf die Lippen und sagt: »Hier bist du, Zoe. Ich habe mich gewundert, dass du nicht im Café sitzt. Ich habe ein paar Unterlagen vergessen.«
    Zoe heißt sie also. Und der Mann, der vor ihr steht – wenn er nicht ihr Vater ist, wofür dem Kuss nach zu urteilen aber nicht viel spricht  –, ist ihr Lebensgefährte. Vorerst hinter dem Klavierdeckel verborgen, betrachtet er ihn. Der Mann ist nicht größer als Zoe, vielleicht sogar ein wenig kleiner. Er wirkt auf eine angenehme und unkomplizierte Weise selbstsicher und arriviert. So, wie er dasteht, mit leicht hängenden Schultern, strahlt er eine gewisse Gelassenheit aus und die Fähigkeit, sich selbst, den Menschen, der er ist, mit Distanz und Ironie zu betrachten. Er lächelt. Seine Haare sind hellgrau und noch voll, so dass er es sich leisten kann, sie etwas länger zu tragen, als es in seinem Alter üblich wäre.
    Sie lebt also mit jemandem zusammen, der ungefähr doppelt so alt ist wie sie. Das gibt es. Er hätte es nur nicht erwartet.
    Sie sagt: »Du hättest anrufen können.«
    Er winkt ab: »Aber nein, nein, das ist lieb von dir.«
    »Piet … Ich habe nichts vor.«
    »Du sollst nicht unter meiner Zerstreutheit leiden.«
    Seine – also Piets – Artikulation ist ein wenig nachlässig oder vernuschelt. Aber da man sich seinem Charme nur schwer entziehen kann, verzeiht man ihm diese Masche, die es zweifellos ist. Man erlässt ihm einen Teil der Mühe des Sprechens und bürdet sich diesen als Mühe des Hörens auf.
    »Und außerdem«, fährt Piet fort und richtet seinen Blick dabei auf den Flügel, »hast du gearbeitet. Ich habe vor der Tür ein paar Takte gelauscht. Du hast …«
    Piet entdeckt ihn, den Fremden am Klavier. Der Ausdruck seines Gesichts verändert sich nur unmerklich, als wäre ihm die zur Schau gestellte Gelassenheit zur zweiten Natur geworden.
    »Oh«, sagt er, »du hast Besuch?«
    Zoe sagt: »Nein, oder ja …«
    Er nimmt die Situation aus zwei Perspektiven wahr. Einerseits sieht er sich als den Fremden, der kaum ein Recht hat, hier zu sein, und sich ganz den Gepflogenheiten des Hauses und den Regeln der Höflichkeit unterwerfen muss. Doch gleichzeitig fahndet er nach einer Spur von Nervosität in Zoes Verhalten, die er als Beleg dafür werten könnte, dass er als Mann einen Eindruck auf sie gemacht hat, der über den des zufällig in ihrem Leben gestrandeten Hilfsbedürftigen hinausgeht.
    »Willst du uns nicht vorstellen, Zoe?«, sagt Piet und behält dabei seine altmodische Art bei, die ohne ein
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