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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist
Autoren: Ulrich Woelk
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Brasseriestil an einer Messingstange hängt, Hitler auf dem Spiegel -Cover. Für Hitler und Conti und Brandt und Bouhler wäre er mit seiner Krankheit nicht mehr als eine genetische Fehlerquelle in ihrem wahnhaften Kampf um die »Gesundheit« der Rasse.
    Da er nichts mehr sagt, begreift sie, was los ist, und drückt die Zigarette aus.
    »Wie idiotisch von mir. Ich wohne hier in diesem Haus. Im dritten Stock. Es gibt einen Fahrstuhl. Irgendetwas gegen Übelkeit habe ich sicher. Vomex oder Ingwertee.«
    Kurz darauf stehen sie in ihrer Wohnung. Es ist eine schöne große Altbauwohnung mit hohen Räumen, Stuck, Doppelfenstern mit echten Fensterkreuzen, Dielen- und Parkettfußboden. Eine Wohnung vom Anfang des Jahrhunderts. Aber in den Regalen, auf den Fensterbrettern, in den Ecken auf dem Fischgräten-Eichenparkett liegen und stehen Dinge herum, die in die Gegenwart gehören und nicht in die Vergangenheit: Espressotassen, CDs, Jogging-Schuhe, Taschenbücher, Hanteln, VHS-Kassetten. Dazu kommt eine moderate Unordnung aus geöffneter Post, Zeitungen, Fernbedienungen und Pullovern, die eine etwas faule Kapitulation vor der mischenden Macht des Lebens zum Ausdruck bringt. Man kann mit fünf Kugeln jonglieren, vielleicht auch mit sieben oder neun, aber nicht mit fünfzig oder siebenhundert. So ungefähr ist das Leben: Ordnung halten unmöglich.
    Allerdings hat die Vielfalt der Dinge in dem salonartigen Raum ein mächtiges Zentrum: einen schwarz glänzenden, spielbereit dastehenden Konzertflügel. Sogar der geschwungene Korpusdeckel ist aufgestellt.
    Sie legt den Schlüssel auf ein Sideboard und zieht ihre Lederjacke aus. Dabei sieht er, dass nicht nur die Vorderseite ihres T-Shirts Träger einer Botschaft ist, sondern auch die Rückseite: LOVE. Fight und Love – das sind die Eckpunkte ihrer T-Shirt-Philosophie. Nicht gerade seine Welt.
    Sie streift die Schuhe ab und steht barfuß auf dem alten Eichenparkett. Ihre Zehen sind im selben dunklen Farbton lackiert wie ihre Fingernägel. Sie bittet ihn, einen Moment zu warten, während sie nach dem versprochenen Mittel gegen Übelkeit sucht. Wahrscheinlich keine leichte Aufgabe hier. Es geht ihm inzwischen wieder etwas besser. Die Übelkeit kommt und geht in Wellen, für den Moment hat sie sich gelegt. Vielleicht ist sie nun endgültig vorüber.
    Der Konzertflügel ist ein Bösendorfer. Er betrachtet die Tasten, deren schwarz-weiße Abfolge sich im Hochglanzlack widerspiegelt. Das Nebeneinander der schwarzen und weißen Tasten hat eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren lackierten Zehennägeln. Er setzt sich auf den Hocker und legt seine linke Hand auf die Tasten. Auf dem Notenbrett steht ein englischer Songtext mit ein paar flüchtigen Akkordnotizen: E -7 , F # -7 , später F # -7
b
5 , B 7
b
9 .
    Er hat eine Zeitlang Klavier gespielt – zuerst mit Unterricht, dann frei improvisierend. Nach den ersten Grandmal-Anfällen in der Pubertät hat er damit aufgehört. Musik kann anfallsauslösend wirken. Das war vor mehr als zwanzig Jahren. Jetzt ist er seit zehn Jahren anfallsfrei. Vielleicht könnte er also wieder Klavier spielen, ohne die neurologische Balance in seinem Gehirn zu gefährden. Er weiß es nicht.
    Er hat jahrelang Phenobarbital genommen, zuletzt 280 Milligramm pro Tag, was aber nicht zu einer vollständigen Anfallsfreiheit geführt hat, so dass er zunächst auf eine Zusatztherapie mit 200 mg Zonisamid umgestellt wurde, von dem er aber schläfrig wurde und gelegentlich Schwindelanfälle bekam. Erst die Umstellung auf Topamax, 250 Milligramm täglich, hat ihn bis heute anfallsfrei gemacht.
    Er schlägt den ersten Akkord an. Der Flügel ist präzise gestimmt, was beweist, dass er mehr ist als nur ein imposantes Möbelstück. Der Akkord verklingt weich und warm. E -7  – e-g-h-d. Er hat sich nie bemühen müssen, Akkorde und ihre Erweiterungen zu verstehen. Beim Anblick der Klaviertastatur waren ihm die Zusammenhänge zwischen den Tönen vom ersten Moment an mehr oder weniger klar.
    Er schlägt den zweiten Akkord an, dann wieder den ersten, beide im Wechsel und immer sehr leise. Mit der rechten Hand improvisiert er ein paar Verzierungen auf der von den beiden Akkorden aufgespannten Tonleiter, e-Moll dorisch. Seine Finger haben nichts vergessen.
    Er schließt die Augen. Daher bemerkt er nicht, dass sie zurückkommt und zuhört, anstatt nach dem Medikament gegen sein Unwohlsein zu suchen. Er bemerkt es erst, als sie zu singen beginnt. Oder besser zu hauchen, aber nicht
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