Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was der Hund sah

Was der Hund sah

Titel: Was der Hund sah
Autoren: Malcolm Gladwell
Vom Netzwerk:
reißen. Sie knurren nicht und warnen nicht durch einen aggressiven Blick. Sie greifen einfach an. »Sie reagieren häufig nicht auf Signale, auf die andere Rassen die Aggression einstellen würden«, heißt es in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung. »Nicht auf Kampf gezüchtete Hunde signalisieren in einem Kampf ihre Unterwerfung, indem sie sich auf den Rücken legen und ihren verwundbaren Bauch entblößen. Zahlreichen Berichten zufolge reagieren Kampfhunde auf dieses Signal der Unterwerfung, indem sie dem Gegner den Bauch zerfleischen.« Medizinischen Untersuchungen zufolge sind Kampfhunde häufiger für Verletzungen und tödliche Angriffe auf Menschen verantwortlich als andere Rassen, weshalb sie in vielen westeuropäischen Ländern, China und zahlreichen Städten und Bezirken der Vereinigten Staaten und Kanadas verboten sind oder starken Einschränkungen unterliegen. Kampfhunde sind gefährlich.
    Aber natürlich sind nicht alle Kampfhunde gefährlich. Die meisten beißen nie jemanden. Andererseits greifen auch Dobermänner, Doggen und Schäferhunde Menschen an. Der Hund, der eine Französin derart übel zurichtete, dass sie die erste Gesichtstransplantation der Welt erhielt, war ausgerechnet ein Labrador. Wenn wir sagen, dass Kampfhunde gefährlich sind, dann stellt dies eine Verallgemeinerung dar, genau wie Versicherungsunternehmen verallgemeinern, wenn sie junge Männer bei der Kfz-Versicherung höher einstufen als andere (obwohl viele junge Männer ausgezeichnete Fahrer sind), oder Ärzte, wenn sie übergewichtigen Männern mittleren Alters eine Untersuchung des Cholesterinspiegels empfehlen (obwohl viele übergewichtige Männer mittleren Alters keine Herzprobleme bekommen). Da wir nicht wissen, welcher Hund einen Menschen beißen, wer einen Unfall verursachen und wer einen Herzinfarkt bekommen wird, sind wir bei unseren Prognosen auf Verallgemeinerungen angewiesen. Wie der Jurist Frederick Schauer meint, ist es ein »unvermeidlicher und oftmals wünschenswerter Aspekt der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung«, alle über einen Kamm zu scheren.
    Ein anderes Wort für Verallgemeinerung ist jedoch Vorverurteilung, und die ist in der Regel kein »wünschenswerter Aspekt der gesellschaftlichen Entscheidungsfindung«. Der Schritt vom Speziellen zum Allgemeinen ist so notwendig wie gefährlich. Angesichts der Datenlage sollte ein Arzt bestimmte allgemeine Urteile über Männer eines bestimmten Alters und Gewichts treffen. Doch was wäre, wenn andere Eigenschaften - etwa hoher Blutdruck, das Auftreten von Herzbeschwerden in der Familie oder Rauchen - mehr aussagten? Hinter jeder Verallgemeinerung steht eine Entscheidung darüber, welche Faktoren berücksichtigt werden und welche nicht, und diese Entscheidung ist oft erstaunlich kompliziert. Nach dem Angriff auf Jayden Clairoux beschloss das Parlament von Ontario, bestimmte Verallgemeinerungen über Kampfhunde zu treffen. Genauso gut hätte es Verallgemeinerungen über große Hunde, über Besitzer von großen Hunden, über kleine Kinder, über Gartenzäune und so weiter treffen können. Woher wissen wir, welche Verallgemeinerungen die richtigen sind?
2.
    Im Juli des Jahres 2005, nach einer Serie von Bombenanschlägen auf U-Bahn-Züge und Busse, kündigte die New Yorker Polizei an, sie werde Beamte in die öffentlichen Verkehrsmittel schicken, um nach dem Zufallsprinzip die Taschen der Fahrgäste zu durchsuchen. Diese zufälligen Inspektionen schienen zunächst lächerlich, verglichen mit einer von Verallgemeinerungen geleiteten Suche. Ein Kolumnist des Magazins New York schrieb damals: »Nicht nur die meisten, sondern fast alle Gotteskrieger, die westeuropäische oder amerikanische Ziele angegriffen haben, waren junge Männer aus Arabien oder Pakistan. Man kann mit anderen Worten mit relativer Sicherheit vorhersagen, wie ein Terrorist der al-Qaida aussieht. Genau wie wir schon immer gewusst haben, wie Mafiosi aussehen, auch wenn wir wissen, dass nur ein winziger Bruchteil aller Italo-Amerikaner Mobster sind.«
    Aber stimmt das? Wissen wir wirklich, wie Mafiosi aussehen? In Der Pate, aus dem die meisten von uns ihr Wissen über die Mafia beziehen, werden die Corleones von Marlon Brando, der irisch-französischer Abstammung ist, James Caan, der aus einer jüdischen Familie stammt, sowie den zwei Italo-Amerikanern Al Pacino und John Cazale dargestellt. Wenn man nach Der Pate geht, sehen Mafiosi aus wie weiße Männer europäischer Herkunft, was keine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher