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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt
Autoren: Christa Wolf
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Herren vor unserer Tür zusammen, die allerdings nicht ahnen konnten, daß wir uns nie begegnen würden: Während sie aus ihrem Untergrund auftauchten, sank ich in einen anderen hinab und fand mich auf unbekanntem Gelände. Eine Hand hatte mir ans Herz gegriffen, eine andere meine Augen berührt. Ich war in der Fremde. Viele Wochen lang lief ich durch namenlose Straßen einer namenlosen Stadt. Es wurde Winter, Matsch, Schneeregen, nasse Kälte bis auf die Knochen, mein Fleisch durchdringend, als wäre es nicht da. Aber es beherbergtenoch eine matte Erinnerung an frühere Freuden, Brot, Wein, die Liebe, den Geruch der Kinder, die Abbilder von Landschaften, Städten, Gesichtern. Jetzt entströmte ihm eine Trostlosigkeit, daß ich dachte, ein kühler Hauch müsse, für jedermann spürbar, von mir ausgehen.
    Nichtsdenkend ging ich die paar Schritte an der niedrigen Steinbalustrade entlang, die unterbrochen wird durch die Einmündung des Weges zur Tür jenes Glaspavillons – im Volksmund »Tränenbunker« genannt –, in dem die Umwandlung von Bürgern verschiedener Staaten, auch meines Staates, in Transitäre, Touristen, Aus- und Einreisende vollzogen wurde, in einem von grünlichen Kachelwänden reflektierten Licht aus sehr hoch gelegenen schmalen Fenstern, in dem als Polizisten oder Zollbeamte gekleidete Gehilfen des Meisters, der diese Stadt beherrschte, das Recht ausübten, zu binden und zu lösen. Dieser Bau müßte als Monstrum dastehen, sollte seine äußere Gestalt seinem Zweck entsprechen, und nicht als Normalbau aus Steinen, Glas und Eisenverstrebungen, umgeben von gepflegtem Rasen, dessen Betreten natürlich verboten war. Den Argwohn gegen diese gepflegten Objekte hatte ich auch lernen müssen, hatte begriffen, daß sie alle dem Herrn gehörten, der unangefochten meine Stadt beherrschte: der rücksichtslose Augenblicksvorteil.
    Da erst wurde ich gewahr, daß vorher ein geheimes Feuer im Innern dieser Stadt geglüht hatte,noch kannte ich seinen Namen nicht, aber seit dem Tag, an dem es ausgelöscht, als alle seine Nebenfeuer erstickt, alle seine verborgenen Fünkchen ausgetreten werden sollten, war ich rettungslos seiner Magie verfallen. Noch mußte ich mit allen anderen in einer verlorenen Stadt leben, einer unerlösten, erbarmungslosen Stadt, versenkt auf den Grund von Nichtswürdigkeit. Nachts hörte ich das Stampfen des Roboters, der mir seine eiserne Hand auf die Brust legte. Aus einem Ort war die Stadt zu einem Nicht-Ort geworden, ohne Geschichte, ohne Vision, ohne Zauber, verdorben durch Gier, Macht und Gewalt. Zwischen Alpträumen und sinnlosen Tätigkeiten verbrachte sie ihre Zeit – wie jene Jungs in den Autos, die mehr und mehr meiner Stadt Sinnbild wurden.
    Jetzt mußte ich mit einem Menschen aus Fleisch und Blut reden. Ich trat in den kleinen Spirituosenladen unter dem S-Bahnbogen Friedrichstraße, die Verkäuferin, eine ältere Frau mit dünnem, zweifarbigem Haar auf dem Kopf, schien gerade auf mich gewartet zu haben. Sie fing aufs Geratewohl ein Gespräch über den roten Sekt an, den sie tatsächlich im Angebot hatte und dessen Qualität keineswegs alle Kunden zu schätzen wußten. Befriedigt holte sie mir eine zweite Flasche aus dem Regal.
    Ob sie schon lange hier arbeite? Ach, ihr ganzes Leben lang. Hier, oder hier herum. Sie sei Urberlinerin.
    Da könne sie wohl was erzählen.
    Ach. Was das angehe – wenn sie da einmal anfangen würde! Die kuriosesten Dinge hätten sich vor ihren Augen zugetragen. Die Frau liebte das Wort »kurios«, sie wiederholte es. Ich fragte mich, ob ich imstande war, noch mehr kuriose Geschichten anzuhören, ich stellte mich aber interessiert an den Erinnerungen der Verkäuferin, die nicht anders als schauerlich sein konnten, und das waren sie auch, aber was mich überraschte: die Frau wußte es. Sie war eine Ausnahme. Zuerst hörte ich es an ihrem Ton, bis ich begriff: Wirklich, sie hing immer noch an ihrer jüdischen Freundin, mit der zusammen sie jung gewesen war, mit der zusammen sie jeden Morgen mit der S-Bahn vom Alex zum Kudamm gefahren war – sie in das Kaufhaus, in dem sie Lehrling war, die Freundin (Elfriede hieß sie, Elfi: Ich bitte Sie, eine Jüdin und Elfi!) in die Bank, Zahlen addieren. Es langweilte sie. Wann das war? Fünfunddreißig, sechsunddreißig... Sie brauchen nicht groß zu gucken. Elfis Freund, der SS -Führer, hatte ihr angeboten, sie rauszubringen, aber sie: Nee, bloß, wenn meine Familie mit kann, sonst nicht. Der Kerl war ja verrückt
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