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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt
Autoren: Christa Wolf
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Jürgen M. konnte es sich ohne weiteres leisten, mich nicht zu kennen. Mehr noch: Er durfte mich gar nicht ansprechen. Vielleicht wußte er sogar, daß...
    Also nun mal der Reihe nach. Und keine Hektik. Was sollte er wissen? Was konnte ein Mann wie Jürgen M. wissen, über die kargen öffentlichen Verlautbarungen und die üppigen Gerüchte hinaus, die ihm vielleicht durchaus genügen mochten. Immerhin mußte ja, außer meinen Freunden, noch irgend jemand von der Existenz der jungen Herren vor meiner Tür informiert sein. Zum Beispiel derjenige, der sie dort aufgestellt hatte. Da war sie wieder, meine fixe Idee, ich erkannte sie sofort, mußte mich aber doch genußvoll in sie hineinbohren: daß es jemanden geben mußte, der außer dem wirklich Wichtigen alles über mich wußte. Auf irgendeinem Schreibtisch, in irgendeinem Kopf mußten schließlich alle Informationen über mich – die der jungen Herren, die der Telefonüberwacher, die der Postkontrolleure – zusammenlaufen. Wie, wenn es der Schädel von Jürgen M. wäre?
    In dem Gedanken schien eine Wahrscheinlichkeit zu stecken, denn mein zweiter unwillkürlicher Gedanke war: Da hätte er endlich, was er braucht. Dieser zweite Gedanke erstaunte mich. Seit wann hatte ich etwas gegen Jürgen M.? Seit wann glaubte ich zu wissen, was der brauchte? Was hatte ich denn noch, ohne es überhaupt zu merken, über Jürgen M. gespeichert? Jürgen M. als Referent – wahrhaftig, auch das hatte es gegeben. Vor oder nach der Affäre mit seinem Professor? Das wußte ich nicht mehr. Der Ruf der Offenheit ging ihm voraus, und es stimmte, er war offen, aber auf mich wirkte alles, was er sagte, wie eine Rechtfertigung für frühere oder spätere Handlungen. Ich erinnerte mich, wie fasziniert viele unserer Kollegen von Jürgen M. waren: Endlich mal einer, der’s sagt, wie es ist. Er bekam starken Beifall, erinnerte ich mich, und ich wollte, schwer bedrückt, schnell nach Hause gehen, aber er paßte mich an der Tür ab und schleppte mich mit in die Bierstube. Es wurde eine große Runde, ein langer Abend. Daß Jürgen M. trank, hatte ich nicht gewußt. Als er anfing, unkontrolliert zu reden, machte ich den Fehler, ihn zu fragen: Warum trinkst du? Da warf er seinen Kopf zu mir herum, als hätte ich ihm einen Schlag versetzt. Immer obenauf, Madam! sagte er. Der Mensch haßte mich. Hab ich dir was getan, sagte ich hilflos, und der eine Satz durchstach den Damm, den Jürgen M. um sich aufgeschüttet hatte, und unaufhaltsamentströmte ihm ein Selbstbekenntnis, das ich anhören mußte und nicht anhören wollte, denn ich wußte: Danach haßt er mich nicht nur; danach wird er mir gefährlich. Aber ich war im Bann seiner Wut und meiner eigenen Neugier, und so erfuhr ich denn, daß er, Jürgen M., seit Jahren mich und mein Leben verfolgte. Daß er jedes Wort kannte, das ich gesagt oder geschrieben, vor allem jedes Wort, das ich verweigert hatte; daß er meine Verhältnisse so genau kannte, wie ein Außenstehender die Verhältnisse eines anderen überhaupt kennen kann; daß er sich in mich hineingedacht, hineingefühlt hatte mit einer Intensität, die mich bestürzte, und daß er mich – was ihn zur Weißglut reizte – für erfolgreich und glücklich hielt. Und für hochmütig, das vor allem. Hochmütig, fragte ich töricht, inwiefern denn das. Insofern ich zu glauben scheine, man könne alles haben, was ich hatte, ohne dafür seine Seele zu verkaufen. Aber ich bitte dich, sagte ich, um nur die Beklemmung zu durchbrechen, wir sind doch nicht mehr im Mittelalter! – An dem Abend hatte ich Pech, ich gab ihm nur Stichworte, auf die er gewartet zu haben schien, denn nun packte es ihn erst richtig. Nicht im Mittelalter! Da habe man es. Das sei es ja gerade, was zu glauben ich mir herausnähme, wahrscheinlich sogar wirklich glaube und nicht nur, wie er lange gedacht habe, als Losung raffiniert vor mir hertrage, um mir dahinter alles erlauben zu können, denn wer würde einer solchenLosung heutzutage widersprechen? Deine ganze Traumtänzerei, sagte Jürgen M., dieses Gehabe auf dem Seil, ohne abzustürzen. Nun aber, unter vier Augen, wolle er mir mal den Star stechen. Nicht im Mittelalter? O doch, Madam. Wir sind im Mittelalter. Es hat sich nichts geändert, abgesehen von Äußerlichkeiten. Und es wird sich nichts ändern, und wenn man sich als Wissender über die Masse der Unwissenden erheben wolle, dann müsse man seine Seele verkaufen, wie eh und je. Und, wenn ich es genau wissen wolle, Blut fließe
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