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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt
Autoren: Christa Wolf
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in der Versammlung den Rücken zugedreht haben, bis du begreifst und dich passend verhältst? Wie oft mußt du »Zufall« gedacht haben, bis du bereit bist, »Absicht« zu denken? Ich mußte grinsen, weil es mich immer aufs neue freut, wenn ich herausfinde, daß die Statistik die wirklichen Fragen nicht beantworten kann.
    Kein Verlust, dachte ich. Jürgen M. war kein Verlust, warum störte es mich also, wenn er mich mied? Warum störte es mich jedesmal wieder? Warum härtete man dagegen nicht ab? Was funktionierte da nicht bei mir? Welcher Mechanismus war da nicht intakt?
    Also nun mal der Reihe nach, und keine Hektik. Jürgen M. Wann habe ich diesen Jürgen M. zum letzten Mal gesehen. Vor Jahr und Tag, soviel steht fest. Unangenehm kann der Anlaß nicht gewesen sein. Hatte ich ihn nicht wegen seiner großgemusterten Krawatte aufgezogen? Er aber überreichte mir mit einer spöttischen Verbeugung das Glas Sekt, das er sich gerade von einem Tablett genommen hatte, holte sich selbst ein neues und stieß mit mir an. Lange nicht gesehen und doch wiedererkannt. Ob mir die Bilder gefielen, wollte er wissen, ich sagte, teils, teils. Es war diese Ausstellungseröffnung im Marstall, die Dinge liefen gerade nicht ganz schlecht, Leute trafen sich, die sich lange nicht begegnet waren und fragten sich gegenseitig ihre Lebensumstände ab, als hätten sie die vergangenenJahre in verschiedenen Ländern verbracht. Wir hatten die Jahre in verschiedenen Ländern verbracht. Wie immer, wenn es sich einigermaßen machen läßt, hielt ich mich an die Spielregeln und fragte Jürgen M., womit er seine Tage verbringe. Ich? sagte er. Ach weißt du, man schlaucht sich so durch.
    Mehr hatte er nicht gesagt, wenn ich es mir genau überlegte. Jürgen M., Freund der Studienfreundin, dem seine Freunde eine glänzende Zukunft prophezeiten. Jürgen M., der Philosoph. Hatte er nicht mit ein paar brisanten Veröffentlichungen auf sich aufmerksam gemacht? Damals, fiel mir ein, war er schlanker und trug das Haar gescheitelt, längst nicht mehr Freund der Freundin, erst verlor ich ihn aus dem Auge, dann sie. Publizierte er eigentlich noch in den einschlägigen Zeitschriften? War das Buch, von dem er unaufhörlich geredet hatte, jemals erschienen? War er gescheitert, enttäuscht von sich und der Welt, mied vielleicht deshalb die Begegnung mit früheren Bekannten? Hätte ich also auf ihn zugehen sollen? Aber war da nicht noch irgend etwas gewesen mit Jürgen M.?
    Hinter mir kam jemand und pfiff so laut und schrill, daß es in der S-Bahnunterführung widerhallte und den Verkehrslärm übertönte. Was pfiff der eigentlich, das Lied kannte ich doch: »Dem Karl Liebknecht haben wirs geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand«, pfiff der Mann.Ich weinte. Das mußte aufhören. Es würde ja auch leider aufhören, wahrscheinlich schon bald. Der Mann, der das Lied pfiff, ein breiter, schwerer Mann um die Vierzig, hatte einen schwarzen Manchesteranzug an, wie die Zimmerleute ihn tragen, aber ohne blanke Knöpfe; breitbeinig und pfeifend ging er, unbekümmert darum, ob die Leute sich nach ihm umsahen, bis zur Tür der kleinen Konditorei, in der er verschwand.
    Konnte ich mir zu diesem Mann eine Frau vorstellen? Ich konnte es nicht. Immer kann ich mir zu bestimmten Frauen keinen Mann vorstellen, dieses eine Mal war es umgekehrt. Der Mann war eine Ausnahme. Zu Jürgen M. konnte ich mir ohne weiteres eine Frau vorstellen, eine von diesen gehobenen Dutzendfrauen, denn von meiner Freundin, die schwierig, aber doch etwas Besonderes gewesen war, konnte er doch nur zu einer Dutzendfrau gegangen sein. Oder hatte meine Freundin ihn damals verlassen? War es uns allen nicht etwas rätselhaft gewesen, warum die beiden sich getrennt hatten, nach all den Jahren?
    Verdammt noch mal, was ging dieser Jürgen M. mich eigentlich an. War er es überhaupt wert, daß ich mich mit ihm beschäftigte. Hatte er nicht damals, in einer ähnlich angespannten Zeit wie dieser hier, diesen widerlichen Artikel gegen seinen Professor geschrieben! Das sah mir ähnlich, daß ich das vergessen, daß ich nicht wahr gemacht hatte,was ich mir vorgenommen hatte: nicht mehr mit ihm zu reden. Ihn wegen dieser blöden Krawatte anzusprechen und mich dann noch zu wundern, wie diensteifrig er mir seinen Sekt gegeben hatte! Er war einfach erleichtert gewesen, daß ich überhaupt mit ihm sprach. Nun aber hatte sich alles noch einmal gedreht, die Dinge liefen nicht gut, nein, das taten sie wirklich nicht, und
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