Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
sie sei entschlossen, die Veranstaltung beginnen zu lassen. Da unten, an der Einlaßtür, mußte mit ihr etwas passiert sein. Wie sie nun vor mir herging,geht nur ein zum Äußersten entschlossener Mensch. Wenn Grün wirklich die Farbe der Hoffnung ist, ihr grüner Pullover signalisierte alles mögliche, Hoffnung nicht. An der Tür zum Veranstaltungsraum stellte sich heraus, daß sie nicht gedachte, mich zu begrüßen. Ich solle einfach vorgehen und frisch von der Leber weg beginnen. Die Leute merken schon von selbst, wenns anfängt, sagte Frau K. Mein lieber Mann, dachte ich. Das hatten wir allerdings noch nicht.
    In dem Raum war es still. In einem schmalen Gang zwischen Stuhlreihen schlängelte ich mich zum Podium durch, auf dem ein nackter Holztisch stand, ein einfacher Stuhl, eine Lampe. Ich nahm die hohe Stufe, setzte mich. Zwei, drei Händepaare klatschten. Die gehörten also nicht zu den sechsen in der Liste. Oder gerade doch? Ich sagte, was ich lesen wollte, und begann.
    Den Text kannte ich auswendig. Die Sätze betonen sich von selbst, die Stimme hebt sich, senkt sich, wird weicher, härter. Wie es sich gehört. Alles mechanisch, keiner wird es merken. Aus welchen Gründen Sie, meine Damen und Herren, immer gekommen sein mögen: Sie werden korrekt bedient werden. Das Honorar, mit dem Sie mich gedungen haben, ist bescheiden, aber ich liefere Ihnen den vollen Gegenwert. Was ich ganz gerne wüßte: Mußten Sie etwa in die eigene Tasche greifen, oder haben Ihre jeweiligen Dienststellen Ihnen die eineMark fünfzig pro Eintrittskarte bezahlt, wie ich doch hoffen will? Müssen Sie Kulturbeflissenheit wenigstens vortäuschen für diesen Job, oder nicht einmal das? Und wie sind Ihre Instruktionen? Beifall am Ende, und wenn ja, wie stark? Oder Mißfallenskundgebungen? Aber bei welcher Gelegenheit? Arbeiterfäuste sind ja wohl nicht mehr zeitgemäß.
    WACHSTUMWOHLSTANDSTABILITÄT
    Oja. Sie werden bedient werden. Eines Tages werdet ihr bedient sein, Kolleginnen und Kollegen. Übrigens: Warum gerade ihr? Warum gerade dieser junge Kerl da vorne links, dem der Schweiß von der Stirn rinnt, aber er wischt ihn nicht ab? Traut er sich nicht, um nicht aufzufallen? Ist er so interessiert, wie er tut? Und das Mädchen hinter ihm, die Langhaarige – wo könnte die angestellt sein. Oder sind die beiden gar nicht herbeordert, sondern gehören zu denen »von der Straße«? Zu denen, für die ich ganz anders lesen müßte. Warum müßte: Muß. Und wenns nur die beiden wären. Aber es können auch zwei, drei Dutzend sein, und ich habe nicht mehr an sie gedacht. Und warum ist mir nicht eingefallen, daß es auch für die anderen lohnen würde, für die, die man hergeschickt hat? Denn wo steht geschrieben, daß sie aus Eisen, daß sie nicht auch verführbar sind.
    Also gut. Jetzt streng ich mich an.
    Jetzt legte ich keinen Wert mehr auf eine Einteilung des Publikums, nach welchen Gesichtspunktenauch immer. Wie sich in den über hundert verschiedenen Köpfen die Welt spiegeln mochte – ich wollte für diese eine Stunde meine Welt in ihre Köpfe pflanzen. Ich hatte keine Einwände, nicht den mindesten Vorbehalt mehr gegen irgendeinen dieser Zuschauer, und – zwar konnte ichs nicht schwören, doch glauben wollte ich es nur zu gerne – auch die sechs oder wie viele es sein mochten, vergaßen vielleicht für kurze Zeit nicht ihren Auftrag, doch ihr Vorurteil. Denn wo kämen wir hin, wenn es Mode würde, in die Hand zu spucken, die einer dir offen hinhält.
    Ich sah, wie gerne die Kollegin K. die Pause, die vor dem ersten Diskussionsredner eintritt, dazu benutzt hätte, die Veranstaltung zu schließen, die zu eröffnen sie sich standhaft geweigert hatte. Noch war nichts passiert, aber in jeder Sekunde – zum Beispiel jetzt, da der junge Mann aus der ersten Reihe aufstand, der, der so schwitzte – konnte es passieren. Aber der junge Mann wollte ja nur wissen, wann das Buch erscheinen würde, und schlauer hätte auch keiner von den sechsen die Diskussion eröffnen können, denn nun verstrich Zeit mit Sachinformationen über die Herstellung von Büchern. »Sachliche Atmosphäre« könnte in den Berichten stehen, die hoffentlich morgen an geeigneter Stelle zusammenliefen. Die Diskussion fand in einer sachlichen Atmosphäre statt.
    Aber man soll sich nicht zu früh freuen. Man solldie Wachsamkeit den eigenen Gefühlen gegenüber niemals vernachlässigen. Es erhob sich in der letzten Reihe eine junge Frau von der Art, gegen die ich wehrlos
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher