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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt
Autoren: Christa Wolf
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ins Gefängnis gebracht, daher habe sie nicht früher kommen können. Als seien wir seit zwei Jahren verabredet gewesen. Nun endlich war die Atmosphäre hergestellt, auf die ich seit dem Eintreten des Mädchens gefaßt gewesen war. »Gefängnis« war das Wort, das unsere Verwandtschaft in Frage stellte. Es ließ sich nichts dazu sagen, nichts fragen. Das Mädchen kramte in der Umhängetasche und zog endlich ein paar Blätter daraus hervor, ein Manuskript, das war der Anlaß für ihren Besuch, und ich las die Blätter sofort, obwohl ich gleich am Anfang gesagt hatte, ich müsse gehen.
    Als ich den kurzen Text gelesen hatte, fragte ich das Mädchen, wem sie ihn außer mir noch gezeigt habe. Ihrer Schwester also, einem Freund, ihrem Mann.
    Jetzt stand ich auf und zog den Telefonstecker heraus. Das Radio wollte ich nicht anstellen, das Mädchen sollte mich nicht für ängstlich oder für eingebildet halten. Sie sei also verheiratet. Ja. Ihr Mann habe zu ihr gehalten, aber was sie mache, interessiere ihn nicht.
    In Zeiten wie diesen, ging es mir flüchtig durch den Kopf, werden alle unsere Schwächen wach, oder unsere Stärken werden zu Schwächen. Es war mir nicht gegeben, einen guten Text für schlecht zu erklären oder die Autorin eines guten Textes nicht zu ermutigen. Ich sagte, was sie da geschrieben habe, sei gut. Es stimme. Jeder Satz sei wahr. Sie solle es niemandem zeigen. Diese paar Seiten könnten sie wieder ins Gefängnis bringen.
    Das Mädchen wurde vor Freude weich, es löste sich, begann zu reden. Ich dachte: Es ist soweit. Die Jungen schreiben es auf. Das Mädchen erzählte von seinem harten Leben, jetzt wollte es sein innerstes Wesen hervorkehren, aber wohin sollte das führen, ich mußte es zügeln, ich konnte nicht dulden, daß es in diesem zutraulichen Zustand auf die Straße trat, ich mußte es fragen, wie es im Gefängnis war, mußte mir anhören, die Kälte sei das schlimmste gewesen. Und die hohen Normen beider Strumpffabrikation. Und die Nierenschmerzen. Es werde dort einfach zu wenig geheizt.
    Das alles in meinem warmen Zimmer, ich mit Strümpfen an den Beinen. Ich mußte jetzt, falls es möglich war, diesem Mädchen Angst einjagen. Mußte ihm sagen, die größten Talente seien in deutschen Gefängnissen vermodert, dutzendweis, und es sei nicht wahr, daß ein Talent der Kälte und der Demütigung und der Zermürbung besser widerstehe als ein Nichttalent. Und daß noch in zehn Jahren Menschen Sätze würden lesen wollen, wie sie sie schrieb.
    Und daß sie, bitte, nicht in jedes offene Messer laufen sollte.
    So solle sie sich aufsparen? Aber wofür?
    Liebe sie nicht ihren Mann?
    Der habe sie geheiratet, um ihr Sicherheit zu geben. Er halte zu ihr. Sie gefährde ihn, er habe ein Amt. Liebe? Nein.
    Und wolle sie keine Kinder?
    Früher schon, oja. Nun nicht mehr. Übrigens habe man sie dort, da man ihre Nierenschmerzen verkannte, an der Gebärmutter operiert.
    Schweigen.
    Das Mädchen hatte ein Einsehen. Sie wolle sich doch nicht ins Verderben stürzen. Nur habe sie es eben gern, etwas aufzuschreiben, was einfach wahr sei. Und dies dann mit anderen zu bereden. Jetzt. Hier.
    Das Mädchen, dachte ich, ist nicht zu halten. Wir können sie nicht retten, nicht verderben. Sie soll tun, was sie tun muß, und uns unserem Gewissen überlassen. Sie ging. Ich sah ihr vom Fenster aus nach. Sie überquerte die Straße, schlängelte sich zwischen den Autos durch, direkt an dem weißen Auto vorbei, unberührt von den gläsernen Blicken der jungen Herren, ging über den Parkplatz und entschwand ihren und meinen Blicken.
    Jetzt habe ich mir nicht ihre Adresse geben lassen.
    Jetzt stecke ich den Telefonstecker wieder rein, mache mich fertig, schließe die Tür ab, gehe. Im Krankenhaus muß die Besuchszeit inzwischen begonnen haben.
    Mein Auto stand sieben Plätze neben dem weißen, das ich keines Blickes würdigte. Ich stieg ein, ließ den Motor an. Das Mädchen fragte nicht krämerisch: Was bleibt. Es fragte auch nicht danach, woran es sich erinnern würde, wenn es einst alt wäre.
    Ich fuhr den Weg nach, den das Mädchen gegangen sein konnte, ich konzentrierte mich auf die Bürgersteige, verursachte beinahe einen Unfall, als ich den Kopf mit dem braunen kurzen Haar in der Menge entdeckt zu haben glaubte und, ohne Rücksicht auf den Verkehr, am Rinnstein zu halten suchte, mußte weiterfahren, von wütendem Hupen gedrängt, ich hatte den braunen Kopf aus den Augenverloren. Keine Adresse. Das haben wir sauber
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