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Was Bleibt

Was Bleibt

Titel: Was Bleibt
Autoren: Christa Wolf
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hingekriegt.
    Während ich weiterfuhr, tadellos und exakt, alle Regeln des Straßenverkehrs bedienend, geschah etwas Merkwürdiges mit mir. Irgend etwas ging mit mir vor, mit meinem Sehvermögen, oder, genauer, mit meinem gesamten Wahrnehmungsapparat. Verkehrstüchtig blieb ich, das war es nicht; ich sah nicht mehr richtig. Ich sah nicht mehr, was ich sah, obwohl doch die Häuser, Straßen, Menschen mir keineswegs unsichtbar geworden waren, das nicht. Was ist mit uns, hörte ich mich denken, mehrmals hintereinander, sonst fehlten mir die Worte, sie fehlen mir bis heute. Versuchsweise sage ich, es war ein Band gerissen zwischen mir und der Stadt – vorausgesetzt, »Stadt« kann noch stehen für alles, was Menschen einander antun, Gutes und Böses. Nicht, daß ich Angst gehabt hätte, verrückt zu werden. Ich hatte weder Angst noch überhaupt ein Gefühl, auch mit mir selbst stand ich nicht mehr in Kontakt, was waren mir Mann, Kinder, Brüder und Schwestern, Größen gleicher Ordnung in einem System, das sich selbst genug war. Das blanke Grauen, ich hatte nicht gewußt, daß es sich durch Fühllosigkeit anzeigt. Mühelos fädelte ich mich aus dem Verkehr, sah mir selbst aus einer gewissen Höhe nicht ohne Anerkennung dabei zu, bog links ab in den Zufahrtsweg zum Krankenhaus, fand, als sei das selbstverständlich,gleich einen Parkplatz und wunderte mich auch nicht, daß man in ein Gebäude, das scharf und flächig, wie aus Pappe ausgeschnitten, dagestanden hatte, dann plötzlich doch hineingehen konnte, daß es dort ein, wenn auch schmutziges, Treppenhaus gab, Aufschriften mit Pfeilen zu den verschiedenen Stockwerken und Stationen, an denen entlang ich schnell und sicher in den zweiten Stock, zur Station C 1 und vor ein Zimmer mit der Nummer siebzehn fand. Ich ordnete meine Gesichtszüge, sie entsprachen dann dem Gesichtsausdruck einer Frau, die ihren Mann im Krankenhaus besucht, ich klopfte an, öffnete die Tür, trat ein, nickte dem jungen Menschen zu, der im ersten Bett lag, trat an das zweite, sah mir aus einer gewissen Höhe dabei zu, sah mich lächeln, beugte mich über das Gesicht, das da in den Kissen lag und küßte es.
    Ich sah mir aus einer gewissen Höhe dabei zu.
    Ich fragte, was zu fragen war, empfing die Antworten, die ich kannte, stellte den Sanddornsaft auf den Nachttisch, packte leere Flaschen und schmutzige Wäsche ein, machte alles ganz echt und ganz natürlich, vermied nicht einmal Wörter wie »Sorge« und »Sehnsucht«, da einem ja, wenn man nichts fühlt, alle Wörter frei zur Verfügung stehen. Ich nahm auch Anteil, forschte nach Einzelheiten, wollte über die kleinsten Fortschritte der Genesung unterrichtet werden, über Bruchteile von Fiebergraden, alle Abstufungen von Schmerz. Nein,eine wirkliche Gefahr habe es nicht gegeben, das wußte ich ja, wenn ich auch gestern den ganzen Vormittag über unruhig gewesen war. So sagte ich, und es stimmte, ich war unruhig gewesen, und wußte im gleichen Augenblick, daß ich mit diesem wahrheitsgetreuen Satz Mißtrauen wecken mußte, das er aber nicht sofort äußern würde. Er würde nur fragen: Und sonst? Das tat er jetzt.
    Und sonst?
    Sonst? Nichts Besonderes. Ziemliche Ruhe. Wenig Leute. Tut ganz gut. Ach wo, keine Vorkommnisse. Also wirklich. Schlafen? Aber ja. Hervorragend. Also wirklich. Über mich muß man sich keine Gedanken machen.
    Warum sagst du heute immerzu »also wirklich«, sagte H.
    Ich? sagte ich. Sag ich das?
    In einer Minute hast du jetzt zweimal »also wirklich« gesagt, sagte H.
    Laß mich zufrieden, sagte ich. Der Satz mußte beschwiegen werden. Heul ruhig, sagte H. nach einer Weile. Ich schob den Stuhl weg und setzte mich auf sein Bett. Das sähen die Schwestern nicht gern, sagte er.
    Wie geht es dir, fragte ich, alles noch mal von vorne. Die gleichen Antworten auf andere Fragen. Er sah blaß aus, ein Zug in seinem Gesicht war mir unbekannt. Mit dem Finger fuhr ich die Linien nach, die ich kannte. Er war in Gefahr gewesen. Gesternhatte ich mich, einen ganzen Vormittag lang, gewaltsam der Schreckensvorstellung eines Lebens ohne ihn erwehren müssen. Es ist alles gut gegangen, sagte ich. Es ist alles gut.
    Ja?
    Also wirklich.
    Später erzähl ich dir alles. Befürchte nichts. Ich befürchte auch nichts mehr. Es liegt alles an uns selbst, weißt du. Lach nicht, wenn Lachen dir weh tut. Du kannst mich noch genug auslachen, später. Du kannst mich Gott sei Dank noch lange genug auslachen, Mann. Du, auf einmal bin ich so froh, daß ich
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