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Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)

Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)

Titel: Warum ich kein Christ bin: Bericht und Argumentation (German Edition)
Autoren: Kurt Flasch
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Ich antworte: Nein, ich brauche keinen Ersatz. Ich lasse die Stelle leer. Ich leide nicht an Phantomschmerz. Ich habe kalt und ersatzlos abgeschlossen. Die Geschichte des Christentums, seine Kunst und Literatur interessieren mich wie zuvor, aber alles Dogmatische geht mich nur historisch etwas an. Argumentativ interessiert mich, was heute behauptet wird. Wer das Christentum bewußt aufgegeben hat, verlangt nichts von all dem, was als Religionsersatz üblich ist: Nationalismus, Sieg über die Konkurrenz, Rekordsucht im Sport, Wirtschaftswachstum, Wissenschaft oder Gelderwerb. Er kann von allem, was sich als Letztwert aufspreizt, so skeptisch und analytisch sprechen, wie früher es radikale Jenseitsgläubige taten. Zum Beispiel Augustin, der das Römische Reich herunterredete und ihm nicht einmal zugestand, ein Gemeinwesen ( civitas ) zu sein.
    Es hat sich inzwischen abgezeichnet, was ich unter ‹Philosophie› verstehe, nämlich das Nachdenken über allgemeine Voraussetzungen des alltäglichen und des wissenschaftlichen Sprechens. Zugleich ist sie wirksames Movens zum Aufsuchen zurückgedrängter Fakten. Dabei verwandelt Philosophie sich sehenden Auges in Philologie, natürlich phasenweise, nicht für immer. Sie braucht, meine ich, heute beide Bewegungsrichtungen, die zum abstrakten Argument und die zum philologisch-historischen Detail. Beide möchte ich etwas näher beschreiben:
    Philosophie ist heute ein unübersichtliches Universitätsfach. Ich selbst beteilige mich an ihren spezialistischen Debatten, zum Beispiel über die Zeittheorie des Aristoteles, fasse aber hier, im Zusammenhang dieses Buches, ‹Philosophie› einfacher und allgemeiner, nämlich als die Aufforderung an mich, bei aufkommenden Zweifelsfragen kohärent zu bleiben. In diesem Fall liegt der Ausgangspunkt nicht bei kleinen Detailfragen, sondern bei etwas, das vor aller Augen liegt. Das können sehr verschiedene Themen sein, z.B. Schulorganisation oder Sterbehilfe oder Rüstungsexporte. Bei Diskussionen über solche allgemeinen Themen sucht der Philosophierende ihre allgemeinen Voraussetzungen auf; er analysiert und bewertet sie. Das Philosophieren kommt in Gang durch den Beschluß, Zweifeln nachzugehen, die allgemeine Dinge betreffen. Im Alltag widmen wir aufkommenden Zweifeln, z.B. über Konzepte von ‹Natur›, von Gesundheit und Tod, keine lange Zeit. Wir huschen darüber hinweg. Wer philosophiert, macht bei ihnen Halt. Es setzt voraus, ihre Klärung sei nützlich, gar notwendig; sie diene dem Gemeinwesen. Das verlangt niemand bei fachinternen Diskussionen, z.B. über die Zeittheorie des Aristoteles. Aber Philosophie im hier gemeinten Sinn geht von dieser Erwartung aus. Sie klinkt sich aus dem abgegriffenen Sprachgebrauch der flüchtigen Sprachbenutzer aus und insistiert: Du feierst Weihnachten, sag mir warum. Weihnachten ist heute ein gewaltiges ökonomisches, soziales und psychologisches Phänomen von komischer und nicht selten tragischer Größe. Wer behauptet, es beruhe auf Wahrheit, oder auch wer das bestreitet, setzt ein bestimmtes Konzept von Wahrheit voraus. Und danach in argumentierenden Unterhaltungen zu suchen, ist die Sache der Philosophie, wie sie hier gemeint ist.
    Sie setzt voraus, daß ein Mensch so fragen darf. Sie käme auch nicht in Gang, stünde von vornherein fest, daß sie zu keinem Ergebnis kommen kann. Beide Voraussetzungen – also ihre Erlaubtheit und ihre Aussichten – sind wert, eigens untersucht zu werden; sie sind umstritten. Hier muß genügen, sie genannt zu haben. Aber auch die bescheidenste Teilnahme an solchen Überlegungen setzt voraus, daß der Leser sich ein Urteil bilden darf und kann. Er muß sich als ‹Subjekt› verstehen. Er muß seinen Glauben wie seinen Unglauben als seine Gedanken erkennen, die er bewerten darf und kann. Das heißt keineswegs, daß er alles beurteilen darf und kann, wohl aber das, was er sich zu eigen gemacht hat und von dem er sich fragt, wie er es heute sieht. Dann bleibt Dunkles genug. Das Leben steckt voller Überraschungen, aber über seine eigenen Anschauungen steht ihm ein Urteil zu, freilich auch nicht über alle, also z.B. kann er in der Regel nicht wissen, ob homöopathische Arzneien helfen. Er wird entscheiden, welche Anschauungen für ihn wesentlich sind, vielleicht nur jetzt, nicht für sein ganzes Leben. Manches, was ihm vor fünf Jahren wesentlich war, wird heute nebensächlich. Das gilt auch für religiöse Annahmen. Ich sage nicht, sie gehörten zur bleibenden
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