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Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Titel: Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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Anteil von elf Prozent aller Erwerbstätigen. Gut ein Drittel davon waren Frauen, viele aufgestiegen aus den unteren Schichten in die neuen Büroberufe. Hinzu kamen noch gut eine Million Beamte, die damals bei Post, Bahn, Kommunen, Reichs- und Landesverwaltungen, Energie- und Wasserversorgungswerken beschäftigt waren. Gleichzeitig sank der Arbeiteranteil auf 45 Prozent aller Erwerbstätigen.
    In Berlin, damals eine blühende Industriestadt, betrug das Verhältnis zwischen Arbeitern und Angestellten 1925 bereits 41,3 zu 27,8 Prozent; in der chemischen Industrie kamen auf 100 Arbeiter 38 Angestellte. Der Trend verstärkte sich in den folgenden vier Jahren massiv. Im internationalen Vergleich stand Deutschland mit den USA an der Spitze: Dort entfielen auf 100 Arbeiter einer Fabrik durchschnittlich 15,9 Angestellte, in Deutschland 15,4, in Großbritannien und Frankreich nur 10,75. Von je fünf jungen Deutschen traten 1925 drei in einen Produktions- und zwei in einen Handels- oder Verkehrsbetrieb ein.
    Diese Daten verweisen auf einen umfassenden sozialen Mobilisierungsprozess. Neben der Verheißung eines besseren Lebens bedeutete (und bedeutet) sozialer Aufstieg Risiko und Stress. Die Erstaufsteigenden konnten im materiellen und ideellen Sinn nicht auf Ererbtes zurückgreifen. Ihnen fehlten der Rückhalt in den Familien, das Vorbild der Eltern, die Selbstverständlichkeit des neuen Status, die vollendete »Gesellschaftsfähigkeit«. Sie gaben alte Gewohnheiten auf, gehorchten den zunächst fremden Standards der neuen Angestelltenkultur und nahmen den Verlust früherer Sicherheiten in Kauf. Wer nach oben drängt, den ängstigt das Abrutschen. Das ließ die Pioniere des familiären Aufstiegs unsicher und angespannt werden. Sie fühlten sich undurchsichtigen Mächten ausgeliefert, die, je nach Konjunktur, Menschen anzogen oder abstießen und zurückwarfen.
    Zugleich wirkten die neuen, in ihrem sozialen Verhalten und in ihrem Zukunftsglauben noch ungefestigten Mittelschichten destabilisierend auf das Gesamtgefüge. Sie drückten nach oben ins Bürgertum, sie weichten die gesellschaftlichen Grenzen auf und erzeugten einen stetigen Aufstiegssog, das weitere Nachstreben, Nachrücken und Nachschieben aus den unteren Schichten. Sie waren mit nachrückenden Proletariern verschwistert, verschwägert und verheiratet. Der Krieg und das Ende der Monarchie, die Bildungspolitik der Republik und die rasche Modernisierung der deutschen Industrie hatten diese Entwicklung beschleunigt und die Klassen- und Standesschranken durchlässiger gemacht. Zudem wurden infolge der Inflation von 1923 die Chancen neu verteilt. Ererbtes Vermögen war verlorengegangen. Nun galt die Devise: Freie Bahn dem Tüchtigen! Der Versailler Friedensvertrag setzte jedoch nicht nur dem staatlichen Handeln enge Grenzen. Im allgemeinen Meinungsbild beschränkte er den endlich erwachten, individuellen Aufstiegs- und Leistungswillen der Deutschen. Die Weltwirtschaftskrise, die von den Deutschen als Komplott fremder Mächte angesehen wurde, steigerte diese Gefühle erst recht. Sie blockierte den verspätet und plötzlich erwachten Aufstiegswillen und trieb hochmotivierte junge Leute, arbeitsame Aufsteiger und diejenigen, die für ihre Kinder ein besseres Leben wünschten, in die Arme des Nationalsozialismus.
    Am Vorabend der Weltwirtschaftskrise, 1929, betrachtete Emil Lederer diese Phänomene ratlos. Er befürchtete, fundamentale Spannungen könnten die Gesellschaft zerreißen und »bis in den Bürgerkrieg treiben«. Wenig später nahm die Krise ihren unheilvollen Lauf, und damals, im Frühjahr 1930, veröffentlichte Siegfried Kracauer seine berühmte Studie über die Angestellten und stellte diese Diagnose: »Der Durchschnittsarbeiter, auf den so mancher kleine Angestellte gern herabsieht, ist diesem oft nicht nur materiell, sondern auch existentiell überlegen. Sein Leben als klassenbewusster Proletarier wird von vulgärmarxistischen Begriffen überdacht, die ihm immerhin sagen, was mit ihm gemeint ist. Das Dach ist heute allerdings reichlich durchlöchert. Die Masse der Angestellten unterscheidet sich vom Arbeiter-Proletariat dadurch, dass sie geistig obdachlos ist. Zu den (SPD-) Genossen kann sie vorläufig nicht hinfinden, und das Haus der bürgerlichen Begriffe und Gefühle, das sie bewohnt hat, ist eingestürzt, weil ihm durch die wirtschaftliche Entwicklung die Fundamente entzogen sind.« [307]

    Die zitierten Zahlen und theoretischen Erklärungen bedürfen der
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