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Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)

Titel: Warum die Deutschen? Warum die Juden?: Gleichheit, Neid und Rassenhass - 1800 bis 1933 (German Edition)
Autoren: Götz Aly
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himmelschreienden Unrechts.
    Der neu bestallte Gerichtsvollzieher gehört seit Jahren einer lose organisierten Skatrunde an. Plötzlich, »dem allgemeinen Zuge der Zeit gemäß«, wird der gesellige Kreis zum eingetragenen Verein. »Angefeuert durch die völkischen Ermahnungen« der Zeitung Anthropopolitanische Morgenröte besinnen sich die Skatfreunde auf ihre staatsbürgerlichen Pflichten. In den Paragraphen 1 der Satzung schreiben sie: »Der Anthropopolitanische Skatklub verfolgt die Aufgabe, das Skatspiel im anthropopolitanisch-völkischen Geiste und in einer der arischen Rasse würdigen Weise zu pflegen.« Leider, leider kann der jüdische Beamte dem Verein nicht angehören. Ähnlich ergeht es ihm im Sängerkränzchen und in der Sportriege, bis er fast nur noch im »engen Kreise von Religionsgenossen« verkehrt.
    Bald darauf gelangt die neu geschaffene Oper »Der sterbende Herkules« zur Uraufführung. Komponiert hat sie der Bruder des Gerichtsvollziehers, was auf den längst als unzumutbar geltenden Gerichtsvollzieher »in nicht gerade sehr vorteilhafter Weise abfärbt«. Im Opernhaus bleibt mancher Platz leer, aus den einigermaßen besetzten Reihen steigt angewidertes Gezischel auf: »Gott sei Dank, nun beschert uns Jerusalem noch eine Oper!« Fix rücken einige Jüngere aus besten Kreisen mit Rasseln und anderen geeigneten Instrumenten an, um die deutsche Kunst vor »Pfuschern und Schwindlern zu schützen«. Der Musikkritiker der Morgenröte schreibt einen wohlbegründeten Verriss. Er verteidigt die Grundbegriffe des ewig Gültigen gegen die zeitgenössisch-kalte, am Kommerz ausgerichtete Verödung und endet kraftvoll: »Der Tempel der Kunst ist kein Warenhaus, das Reich des Schönen ist kein Börsensaal, merke dir dies, Israel!«
    Die Lage bleibt für den Gerichtsvollzieher prekär. Unerträglich wird sie, als der für investigative Aufgaben zuständige Reporter der Morgenröte einen 60 Jahre zurückliegenden Fall von Wucherei aufdeckt. Gründlich, in allen Verästelungen recherchiert, erscheint das groß aufgemachte Lesestück in der Wochenendbeilage. Der Fall klingt kompliziert, doch enträtselt er sich in seiner Abgründigkeit jedem gut und gerecht Denkenden sofort. Die Braut des Gerichtsvollziehers hat einen Onkel mütterlicherseits, und um dessen Großvater (wiederum mütterlicherseits) dreht sich die Wuchergeschichte. Da die Braut von besagtem Onkel, also vom Erben »eines schurkischen Wucherers und Volksausbeuters«, ihre reiche Mitgift erhalten hat, profitiert der Gerichtsvollzieher unmittelbar von der schändlichen Wucherei.
    Im Begleitkommentar macht der Journalist aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er mahnt das »Ende der Langmut« an. Anders als in der biblischen Geschichte vom Auszug aus Ägypten, so formuliert er plastisch, werde sich das Meer vielleicht schon in naher Zukunft nicht mehr zugunsten Israels öffnen und die (ägyptischen) Verfolger vernichten. »So kann recht wohl in unserer Zeit der umgekehrte Fall eintreten: dass Israel unschädlich gemacht, dagegen seine Gegner – richtiger: seine Opfer – gerettet werden. Es gibt noch andere Meere als das Schilfmeer; es gibt außerdem Flüsse, auch in unserem anthropopolitanischen Lande, mit genügendem Wasser, um das ganze Volk Israel unschädlich zu machen.« Ein paar Tage später tritt der Gerichtsvollzieher zurück. Er entschließt sich dazu auf Druck der öffentlichen Meinung, nicht zuletzt auf Bitten der Jüdischen Gemeinde, die so dem weiteren Anschwellen des Antisemitismus vorbeugen will.
    Die Geschichte aus Anthropopolis erschien 1926. Wenige Jahre danach wurde die Fiktion wahr. Beim Jungvolk, bei der Hitler-Jugend, beim Bund Deutscher Mädchen und bei der SS sangen und summten Abertausende den Ohrwurm: »Die Juden ziehn dahin, daher./Sie ziehn durchs Rote Meer./Die Wellen schlagen zu. / Die Welt hat Ruh.« [293]
    Der bereits vorgestellte Roman »Die unsichtbare Kette« endet mit der Frage, die der Autor Herbert Friedenthal 1936 in Berlin stellte: Gehen oder ausharren? Offenbar lässt sich dem Antisemitismus nirgends entrinnen, weder in Sydney noch in Tanganjika, die Judenfrage reist mit. »Du trägst sie mit Dir, sie ist da, wo Du bist, sie ist da, solange Du sie nicht beantwortet hast.« Palästina! Das könnte ein Ausweg sein. Kai, der Held des Romans, sträubt sich: die Zwangsnormalisierung, das Klima, die Malaria, der unausweichliche Krieg mit den einheimischen Arabern. Er lehnt den zionistischen Ausweg ab. Anders
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